„Eine Geschichte, die nicht vergeht“ – In Gedenken an Shlomo Lewin und Frida Poeschke
TL;DR: Vor 45 Jahren wurden Shlomo Lewin und Frida Poeschke von einem Neonazi ermordet. Die Tat: antisemitisch. Die Aufklärung: beendet. Das Gedenken: verblasst. Und der Staat? Schließt die Akten – nicht die Wunde.
Am 19. Dezember 1980 erschoss ein in einen Palästinensischen Ausbildungslager geschulter Neonazi den Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke. Die Tat wurde schnell vergessen, die Täter nie verurteilt. Heute beendet die Bundesregierung offiziell die Aufklärung – in einem Akt institutioneller Müdigkeit.
Zwei Menschen werden in ihrer gemeinsamen Wohnung in Erlangen erschossen: Shlomo Lewin, 69 Jahre alt, Rabbiner, Verleger, Kritiker rechter Netzwerke; und Frida Poeschke, seine Lebensgefährtin. Der Täter: Uwe Behrendt, Mitglied der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann, enger Vertrauter ihres Anführers Karl-Heinz Hoffmann.
Der Tatort war Deutschland. Das Motiv: antisemitisch. Der
Kontext: rechter Terror.
Die Reaktion: institutionelles Wegschauen.
Was geschah? Und warum wissen es so wenige?
Die Morde an Lewin und Poeschke markieren einen blinden
Fleck der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Antisemitismus, rechte Gewalt,
staatliches Versagen – die Trias wurde früh etabliert, aber selten erkannt. Die
Polizei ermittelte damals im Umfeld der Opfer. Der Täter, ein bekannter
Rechtsextremist, floh unbehelligt in den Libanon, in ein Ausbildungslager der
PLO, mit Hoffmanns Hilfe, mit seinem Geld, mit der Tatwaffe.
Fragen, die sich aufdrängen, blieben unbeantwortet. Wo ist
die Mordwaffe? Wer trug politisch die Verantwortung? Warum wurde die
Wehrsportgruppe trotz Verbindungen zu zwei der schwersten Anschläge der
Nachkriegsgeschichte – dem Oktoberfestattentat und dem Doppelmord von Erlangen
– nie konsequent zerschlagen?
2023 stellte die Bundestagsfraktion der Grünen eine Kleine
Anfrage. Die Antwort: ernüchternd. Die Bundesregierung erklärte sinngemäß, sie
habe keine Lust mehr auf Aufklärung. Wörtlich heißt es, eine erneute Sichtung
der 34.000 Aktenseiten zur WSG Hoffmann sei „unzumutbar“. Es ist der endgültige
Schlussstrich – nicht unter die Geschichte, sondern unter ihre Erzählbarkeit im
Staatsapparat.
Die Geschichte von Lewin und Poeschke ist keine Fußnote,
sondern ein Kapitel in einem wiederkehrenden Buch: Die Erzählung rechter Gewalt
in Deutschland – und ihrer Bagatellisierung. Die Parallelen zum NSU-Komplex
sind erschreckend kongruent:
- Opferbeschuldigung:
Während rechte Täter unter dem Radar flogen, wurden die Opfer selbst unter
Verdacht gestellt.
- Einzeltäter-These:
Behrendt bei Lewin, Böhnhardt und Mundlos beim NSU – stets wurde die
Geschichte auf wenige Köpfe reduziert, während Netzwerke unbehelligt
blieben.
- Aktenvernichtung
statt Aufklärung: Ob NSU oder WSG – Behörden agierten oft eher als
Archivare des Vergessens denn als Erforscher der Wahrheit.
- Antikommunistische
Schablonen: Rechter Terror wurde verharmlost – und stattdessen der
„Feind im roten Tuch“ gesucht.
Ulrich Chaussy, Journalist und Autor, der den Fall bis heute
verfolgt, spricht von einer „Beharrlichkeit der Verdrängung“. Er zitiert die
Sicherheitsbehörden als „Hüter des Quellenschutzes“, nicht des Lebensschutzes.
In einem politischen Klima, in dem rechte Narrative in
Parlamenten wieder salonfähig sind, hat das Vergessen Methode. Die
Normalisierung rechter Gewalt ist kein Unfall, sondern Ergebnis einer
ideologischen Sehschwäche, die sich als Staatsräson tarnt.
Die Bundesregierung vermeidet bis heute, den Mord an Lewin
und Poeschke als antisemitisch zu benennen. Irene Mihalic (Grüne) nennt das ein
„Armutszeugnis“. In einer Zeit, in der Antisemitismus offen auf den Straßen
artikuliert wird, wirkt diese Weigerung wie ein Freibrief an das Vergessen.
„Es ist nur schade, wenn keiner weiß, was in den Akten
steht“, sagt Mihalic zur taz. Doch das Problem liegt tiefer: Es ist
nicht nur das „Nichtwissenwollen“. Es ist das institutionalisierte
„Nicht-wissen-wollen-dürfen“.
Von Köhler bis Behrendt – und was das alles miteinander
zu tun hat
Drei Monate vor dem Mord in Erlangen zündete Gundolf Köhler
eine Bombe auf dem Münchner Oktoberfest. 13 Tote, 221 Verletzte – bis heute der
schwerste rechtsterroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.
Auch Köhler hatte Verbindungen zur WSG Hoffmann, taucht auf internen Listen
auf. Andere Mitglieder brüsteten sich später mit ihrer Beteiligung, sprachen
offen über weitere Pläne. Die Ermittlungsbehörden winkten ab: Angeberei.
Die Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland reicht von der
WSG über den NSU bis nach Halle. Es ist eine Geschichte, deren Gemeinsamkeit
nicht nur in den Tätern liegt – sondern im Schweigen, das auf die Taten folgt.
Die Aufklärung rechter Gewalt darf kein Konjunktiv der
politischen Bequemlichkeit bleiben. Der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke
war kein tragischer Einzelfall, sondern ein Menetekel. „Wir müssen diese
Menschen aufspüren, sie hinausdrängen, sie entlarven und ihre Lügen aufzeigen“,
sagte Lewin 1977. Es war ein Appell – heute klingt er wie ein Vermächtnis.
Die Entscheidung der Bundesregierung, die Akten ruhen zu
lassen, ist eine historische Setzung. Sie lautet: Dieses Kapitel ist
abgeschlossen. Doch es ist nicht abgeschlossen. Es ist nicht einmal gut
verstanden.
Wer das Gedenken an Lewin und Poeschke ernst meint, darf
sich nicht mit Symbolpolitik begnügen. Er muss bereit sein, unbequeme Fragen zu
stellen. Und sich die Mühe machen, 34.000 Seiten zu lesen.
45 Jahre nach dem Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke steht die
Bundesrepublik an einem Scheideweg zwischen Erinnerung und Verdrängung. Der
Staat, der sich zur Aufarbeitung verpflichtet hat, zieht sich zurück –
ausgerechnet dort, wo Aufklärung ein Zeichen gegen den wiedererstarkten Antisemitismus
wäre. Die Geschichte rechter Gewalt ist nicht abgeschlossen. Sie ist ein
fortlaufender Text. Die Frage ist, wer ihn noch lesen will.
„Wir
vermuten eine schlecht aufgearbeitete Kontinuität des Rechtsextremismus von den
1980ern bis zum NSU.“
– Irene Mihalic, Grüne Bundestagsfraktion
