Ein Pixi-Buch, Chanukka und der antisemitische Furor der Kommentarspalte

TL;DR: Ein Pixi-Buch erklärt Chanukka – und die Kommentarspalte tobt. Für 99 Cent gibt’s nicht nur Aufklärung, sondern in den Kommentaren auch den Beweis, wie tief der Hass auf Jüdische Menschen sitzt. Sichtbarkeit wird zur Provokation, Toleranz zur Zielscheibe. Willkommen im digitalen Abendland.

Ein Pixi-Buch über Chanukka entfacht auf Facebook antisemitische Hetze. Einblick in digitale Intoleranz und die Debatte um jüdische Sichtbarkeit in Deutschland.


Wie ein Kinderbuch über jüdisches Leben zum Katalysator kollektiver Projektionen wird

Das Pixi-Buch „Mit Emre und Marie Chanukka feiern“ erzählt in 24 Seiten von jüdischem Brauchtum, kindgerecht verpackt, mit dem Ziel, Verständnis zu schaffen – oder, wie es die Redaktion schreibt: „Eine neue Ausgabe erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt.“

Doch die Kommentarspalte hat keinen Platz für Verständnis. Stattdessen wird aus einem Kinderbuch ein Seismograph gesellschaftlicher Verhärtung. Die Leser der Facebook-Seite der Jüdischen Allgemeinen – oder zumindest deren lautester Teil – reagieren nicht mit Interesse, sondern mit Antagonismus.

Die Zivilgesellschaft macht Ausgang. Zurück bleibt ein digitaler Mob, der nicht diskutieren will, sondern deklassieren.

Vom Chanukkalicht zum Fackelmarsch der Gedanken

Die ursprüngliche Frage des Buches – warum feiert Emre kein Weihnachten – wird in den Kommentaren umfunktioniert zur rhetorischen Waffe. Etwa von Ebubekir Celik, der fragt: „Warum feiert Ahmet kein Weihnachten?“ – mit dem sarkastischen Nachsatz: „Komisch, dass bei Muslimen plötzlich von nicht gelungener Integration gesprochen wird.“ Ein Hinweis, dass auch muslimische Kinder erklären müssen, warum ihre Feiertage anders sind – doch anstatt zu verbinden, wird polarisiert.

Die Antwort folgt prompt – nicht als Reflexion, sondern als Angriff. Ti Mea verneint jedes Problem: „Gähn. Ewige Opferrolle.“ Und fährt fort, als handle es sich nicht um Religion, sondern um Kriminalität: „Solange ihr nicht respektlos gegenüber Einheimischen seid oder kriminell werdet…“

Das Niveau sinkt weiter. Aviel Tromm argumentiert, man könne nicht erwarten, dass jüdisches Leben zur Norm werde: „Ich glaube kaum, dass hier in Deutschland alle Juden sein möchten, was übrigens auch gut so ist.“

Mark Pammesberger setzt dem die Krone auf: „Unnützes Volk.“

Ein Satz, zwei Worte, ein Echo aus dem 20. Jahrhundert.

Die Kommentarsektion offenbart mehr als nur Meinungen. Sie zeigt ein Bild ideologischer Verschiebung:

  • Die Kritik am Buch ist selten inhaltlich.
  • Die jüdische Darstellung wird zum Anlass für ressentimentgeladenen Kulturkampf.
  • Nicht jüdisches Leben wird erklärt, sondern jüdisches Leben wird erklärt bekämpft.

„Warum feiern Juden kein Opferfest 😊“, fragt Better Call Sam, als hätte man vergessen, dass Jüdinnen und Juden nicht zur kulturellen Selbsterklärung gegenüber einer christlichen Mehrheit verpflichtet sind.

Es ist, als würde jede Sichtbarkeit einer Minderheit als Provokation empfunden – nicht weil sie laut ist, sondern weil sie sichtbar ist.

Besonders infam ist der Kommentar von Narniana Better, der ein Video teilt mit dem Satz: „Juden sagen, dass sie alle Christen wegen ihres Glaubens töten müssen.“ Darunter die Übersetzung: „Wenn sie Götzenanbeter sind.“ Hier kehrt eine jahrhundertealte Legende zurück – der Ritualmord, der Jude als metaphysischer Feind des Christentums. Nichts Neues, nur auf TikTok-Format gestutzt.

Ein anderer Kommentar raunt von der Sintflut und der „Überlebensprivilegierung“ der Juden laut „Bi-bel AT“. Man fragt sich, ob solche Gedanken beim Abendgebet gesprochen oder beim Dosenbier formuliert werden.

Zwischen Mythos und Mob

Aykutalp Günar bringt schließlich Geopolitik ins Spiel: „Verantwortliche Zionisten müssen vor Gericht verurteilt werden.“ Hier trifft antiisraelische Rhetorik auf personalisierte Schuldzuweisung – ein klassischer Grenzfall im Licht der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus.

Diese definiert Antisemitismus u. a. als:

  • Dämonisierung und Entmenschlichung von Juden,
  • Reproduktion antisemitischer Mythen,
  • Zuschreibung kollektiver Schuld,
  • Pauschalisierung Israels als jüdisches Ganzes.

Nach diesen Kriterien sind mehrere Kommentare klar antisemitisch:
„Unnützes Volk“, „Juden sagen, dass sie alle Christen töten müssen“, oder die Bemerkung zur Sintflut erfüllen diese Definition eindeutig.

Auffällig ist der wiederkehrende Neid auf Sichtbarkeit. Ein einfaches Pixi-Buch – billig, niedrigschwellig, kindgerecht – wird gelesen als ideologisches Machtinstrument. Der Vorwurf: Juden machen sich sichtbar. Die implizite Forderung: Sie sollen es lassen.

Dabei leben in Deutschland rund 95.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden (Zentralwohlfahrtsstelle, 2023. Die Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) ist der Dachverband der jüdischen Sozialarbeit in Deutschland). Ihre Sichtbarkeit in Schulbüchern, Medien, Erzählungen ist verschwindend gering – und dennoch zu viel für manche.

Der Diskurs über ein jüdisches Kinderbuch wird zur Bühne für das große Ressentiment. Statt über Chanukka wird über alles andere gesprochen – über „Integration“, „Islam“, „Zionismus“, „Weihnachten“ und schließlich: „Satanismus“.

Wer nicht in der Mehrheitsgesellschaft mitsingt, wird nicht etwa überhört – sondern beschuldigt.

Was diese Kommentare zeigen

Diese Eskalation in den Kommentarspalten zeigt nicht nur individuelle Entgleisungen, sondern kollektive Muster:

  • Entmenschlichung durch Sprache
  • Instrumentalisierung religiöser Differenz für politische Agenda
  • Entgrenzung des Sagbaren in digitalen Räumen

Wenn ein Kinderbuch zum Vorwand für Hass wird, ist nicht das Buch das Problem. Dann ist die Kommentarspalte ein Spiegel. Und was man darin sieht, lässt sich nicht mit einem Pixi-Format lösen.

Ein Kinderbuch will erklären, wie jüdische Familien feiern. Und das Netz antwortet: mit Furor. Für 99 Cent erhält man ein Plädoyer für religiöse Bildung – und unfreiwillig einen Crashkurs in deutscher Debattenkultur.

Die Ironie ist komplett: Während Kinder im Buch einander zuhören, brüllen Erwachsene im Netz ihre Verdächtigungen in die Welt. Das Chanukkalicht soll Verständnis bringen – doch es beleuchtet vor allem den Schatten.

Ein Kind fragt: „Warum feierst du kein Weihnachten?“
Ein Buch antwortet: „Weil ich Chanukka feiere.“
Die Kommentarspalte entgegnet: „Warum feierst du überhaupt?“

Sie wollen ein Kind stärken – und treffen auf eine Gesellschaft, die lieber die Bücher verbrennt als ihre Vorurteile.

 

 

  

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