Solidarität bis zur Geschichtslosigkeit
TL;DR: Wenn der Holocaust zur Metapher wird, bleibt vom Antifaschismus nur Pose. Was Martha Chiara Wüthrich, die Linksjugend ['solid] und die Linke Baden-Württemberg zeigen: Erinnerung ist in der Linken verhandelbar geworden.
Wie Teile der Linken den Holocaust relativieren – und
sich dabei für besonders antifaschistisch halten.
„Das
ist ein Völkermord. Das ist ein Holocaust. Das ist der Holocaust!“
Drei Sätze, gesprochen in die Kamera eines Smartphones.
Gesagt von Martha Chiara Wüthrich, Sprecherin der Linksjugend ['solid], in
einem TikTok-Video, das schneller gelöscht wurde, als man „historische
Verantwortung“ buchstabieren kann.
Wer so redet, hat nicht nur das politische Urteilsvermögen
verloren – sondern auch jeden Maßstab für Geschichte.
Die Relativierung der Shoah – von rechts bekannt, von
links bagatellisiert
Holocaustrelativierung wird in der Regel dem rechtsextremen
Lager zugeordnet – dort ist sie beheimatet. Doch auch in Teilen der Linken hat
sie längst Anschluss gefunden.
In der Linksjugend ['solid] ist Martha Chiara damit
kein Ausreißer. Sie ist gut aufgehoben in einer Organisation, aus deren Reihen
regelmäßig schrille, israelfeindliche Töne dringen. So etwa bei der Linksjugend
Frankfurt, die es auf X (vormals Twitter) bedauerte, dass israelische Jugendliche,
die in Valencia aus einem Flugzeug verwiesen wurden, nicht bereits während des
Fluges hinausgeworfen worden seien.
Was folgte auf Wüthrichs Video?
Keine Entschuldigung. Kein Rückzug der Holocaustrelativierung.
Sondern ein
Solidaritätsaufruf – mit Martha Chiara, versteht sich. Und mit der
Palästina-Flagge im Hintergrund.
Denn wer sich in der deutschen Linken für radikal hält, tut
das heute gerne mit einer Mischung aus universellem Antirassismus, postkolonialer
Empörung – und Empathie für alle, solange sie nicht jüdisch sind.
Das alles ließe sich noch als verwirrten Jugendfehler
verbuchen – wenn es nicht längst programmatische Kontinuität wäre.
Auf demselben Bundeskongress, dessen Bühnen Martha Chiara
bespielt, beschloss die Linksjugend ['solid] einen Antrag mit dem Titel:
„Nie
wieder zu einem Völkermord schweigen“.
Darin: die Behauptung einer „Vernichtung des
palästinensischen Volkes durch den israelischen Staat“. Kein Wort über die
Hamas. Kein Satz über jüdische Opfer. Kein Begriff von Antisemitismus.
Im Gegenteil: Ein Änderungsantrag, der wenigstens ein
Minimum an Mitgefühl für jüdische Opfer
enthielt, wurde mit 64,9 %
der Stimmen abgelehnt.
- Keine
Erwähnung des 7. Oktober
- Kein
Wort über die Geiseln
- Keine
Kritik an der Hamas
- Keine
Zustimmung zum „Kampf gegen Antisemitismus“
Eine Organisation, die sich antifaschistisch nennt, aber den
faschistischen Charakter der Hamas nicht erkennt – oder ihn billigend in Kauf
nimmt – hat den Begriff Antifaschismus offensichtlich längst ausgehöhlt.
Stattdessen: Israel als „koloniales und rassistisches
Staatsprojekt“, und Zionisten als Feindbild.
Und während AfD-Größen wie Jens Maier oder Björn Höcke vom
„Schuldkult“ sprechen und ein Ende der „dämlichen Bewältigungspolitik“ fordern,
skandieren linke Aktivist*innen auf Demonstrationen:
„Free Palestine from German Guilt.“
Man kennt die Parole, man kennt die Absicht.
Wenn extreme Rechte und Teile der Linken sich – unbeabsichtigt oder nicht – auf
dieselbe erinnerungspolitische Vernebelung einigen, wird der Schulterschluss
nicht nur unheimlich.
Er wird realpolitisch gefährlich.
Erinnerungskultur auf Abwegen – nicht in Tel Aviv,
sondern in Stuttgart
Der Instagram-Post der @bag_palisoli ist zwar kein Ort der
Holocaustrelativierung – aber ein Paradebeispiel jener selektiven
Solidarität, die nicht mehr fragt, mit wem man sich da eigentlich gemein
macht.
Was dort mit kämpferischem Pathos als „Positionierung gegen
politische Repression“ verkauft wird, ist in Wahrheit die Solidarisierung mit
einer Genossin, die den Holocaust zur rhetorischen Schablone für aktuelle
Nahostpolitik gemacht hat.
Man solidarisiert sich also nicht mit Unterdrückten –
sondern mit einer Holocaust-Relativiererin.
Und wer das kritisiert, gilt als Teil der „Repression“.
Ein Angriff auf eine*n ist eben ein Angriff auf alle – es sei denn, es geht
um Juden.
In Baden-Württemberg ist man inzwischen weiter – allerdings
in die falsche Richtung. Auf dem Landesparteitag der Linken, bei dem Bernd
Riexinger, Ex-Parteivorsitzender und Wochen später zu Chef der
Rosa-Luxemburg-Stiftung gewählt, sprechen durfte, wurde das neue
Landtagswahlprogramm verabschiedet. In der Rubrik „Erinnerungskultur“ heißt es:
„Wir vergessen nicht.“ Nur: Was genau eigentlich nicht?
Weder Juden noch Shoah werden namentlich erwähnt.
Stattdessen: Gedenkfahrten zu „Stätten der fortschrittlichen Bewegungen“,
Demokratiewochen, Umweltpädagogik – alles unter dem Label Antifaschismus.
Die Liste der Erinnerung würdigt vieles, nur nicht das, was
den Kern einer deutschen Erinnerungskultur ausmacht: die industrielle
Vernichtung der europäischen Juden, der spezifische Rassenantisemitismus der
Nazis, die Singularität der Shoah.
Hier wird nicht erinnert, sondern verschleiert.
Nicht aufgearbeitet, sondern eingeordnet – in das eigene Weltbild.
Diese Form des Gedenkens erinnert frappierend an die DDR:
Dort war der Faschismus ein Spielball des Klassenkampfs, seine Hauptopfer
Kommunisten. Juden? Wenn überhaupt, dann als Fußnote.
Der heutige Antifaschismus in Teilen der Linken folgt diesem
Muster. Nicht im Namen der Wahrheit, sondern im Namen der Ideologie.
Nur: Heute wird nicht mehr geschwiegen, sondern umgedeutet.
Israel wird zur Täterfigur stilisiert – als hätte es den
Holocaust, als Fakt, der zu seiner Gründung führte, nicht gegeben, sondern als
wäre es dessen Fortsetzung.
Wenn der jüdische Staat zum „neuen Nazi“ erklärt wird, darf man sich endlich
wieder als Antifaschist inszenieren – ohne Verantwortung, ohne Geschichte, ohne
Juden.
Und dass Bernd Riexinger während des Parteitags kein Wort
der Kritik an dieser Shoah-freien Erinnerungspolitik verloren hat, lässt
für seine neue Rolle bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schlimmes befürchten.
Das Abgründige an der Solidarisierung mit Martha Chiara ist
nicht das TikTok-Video. Es ist das Schweigen derer, die es besser wissen
müssten.
Die mangelnde Empörung in einer Partei, die auf Plakaten an das Erinnern
erinnert.
Die wortreiche Empathie, die nie dort innehält, wo jüdische Opfer betroffen
sind.
Dass Delegierte der Linksjugend ['solid], die sich nicht
explizit gegen Israel positionierten, offen angefeindet wurden – kaum ein
Thema.
Dass andere ihre Hotels wechselten, weil sie als „Zionisten“ bedroht wurden –
kein Aufschrei.
Wer den Antisemitismus in den eigenen Reihen nicht sehen will, wird ihn bald
auch draußen nicht mehr erkennen.
Während die politische Rechte marschiert, jüdische Gemeinden
unter Polizeischutz stehen und antisemitische Übergriffe explodieren – bleibt
in Teilen der Linken der Antisemitismus ein Problem der anderen.
In Baden-Württemberg steht der Kampf gegen ihn nicht
im Programm.
Und wenn doch, dann als leere Floskel – zwischen Klimaschutz und Verkehrswende.
Der antifaschistische Diskurs dieser Art ist wie eine
Fototapete: hübsch, bunt – und unheimlich flach.
Und wenn das alles nur ein Sturm im linken Wasserglas war? Dann
wäre zu hoffen, dass wenigstens das Gedächtnis nicht mit ausgeschüttet wird. Dieser
Beitrag versteht sich nicht als moralischer Pranger, sondern als Plädoyer für
begriffliche Klarheit, historische Verantwortung und politische Redlichkeit –
auch (und gerade) innerhalb linker Bewegungen.