An allem sind „Israel“ oder „die Zionisten“ schuld – oder: Das „Gerücht vom Juden“, digital erneuert
TL;DR: „Charlie Kirk wurde von Zionisten ermordet“, „Israel steckt hinter dem Sudan-Massaker“ – aus dem alten Gerücht vom Juden ist digitaler Standard geworden. Heute reicht ein Post, um alten Hass im neuen Gewand viral zu machen. Das Muster ist immer gleich, ob 1931 0der 2025.
Einen Tag nach dem Mord an dem konservativen, pro-israelischen Aktivisten
Charlie Kirk kursierten in den sozialen Medien Verschwörungstheorien, die
Israel bzw. „Die Zionisten“ oder „Die Zios“ für den Mord verantwortlich
machten. Nun zeichnen sich erste Anzeichen einer ähnlichen Kampagne ab, die
online an Fahrt gewinnt – diesmal mit dem Versuch, Israel bzw. „Die Zionisten“ mit dem Massaker der RSF-Miliz in der Stadt
al-Faschir in Verbindung zu bringen.
Wenn
der Antisemitismus die Weltformel der Dummen ist, dann sind X, TikTok & Co.
das Periodensystem der neuen Idiotie. Einst textete Friedrich Hollaender mit
galligem Spott: „An
allem sind die Juden schuld“ – eine Sentenz aus dem Jahr 1931, als
deutsches Ressentiment noch Uniform trug. Heute, im Jahr 2025, hat sich der
Satz nicht erledigt, sondern nur umgezogen: ins Smartphone, in Threads und
unter die Hashtags #ZionistTerror, #IsraelKills, #CharlieKirkMurdered.
Der
Mord an Charlie Kirk? Natürlich Israel oder „die Zionisten“, manchmal beide. „Charlie
Kirk was killed by the Mossad and Zionists“, verkündet ein User
mit geradezu eschatologischer Gewissheit. Das Massaker an 2.000 Zivilisten in
Al-Faschir durch eine sudanesische Miliz? Wieder Israel oder die Zionisten,
manchmal beide. „Israel and its collaborators are behind the massacre in
Sudan as well. Zionism is the greatest enemy of the world!“ –
als hätte Theodor Herzl einst persönlich die RSF befehligt.
Der
Regen im Jemen? Wahrscheinlich Mossad-Technologie – oder das Ergebnis
zionistischer Weltherrschaft. Die neue Weltverschwörung ist die alte in WLAN.
Die
pro-palästinensische Bewegung – von der ausgeleierten autoritären Linken in
allen Schattierungen von Stalin über Mao bis Trotzki bis zur stahlharten
Rechten wie Marjorie Taylor Greene, Nick Fuentes oder Offenen Deutschen
Neonazis, die forderten „Make Israel
Palestine Again.“– spricht wieder mit einer Stimme: dem historischen Bass des
Sündenbocks. Nur dass dieser heute nicht mehr mit Kippa und Brille karikiert
wird, sondern als „zionistisches Netzwerk“, „Tel Avivs Schattenregierung“ oder „USraelisches
Kriegskartell“. Die Maske hat sich geändert, das Gesicht
dahinter nicht.
Wem
Fakten lästig sind, hilft Mythos. Und der lautet: Israel – beziehungsweise „der
Zionismus“ – ist die Wurzel aller Gewalt. Nicht Iran, nicht Putin, nicht die
RSF, nicht der IS, nicht Trump, nicht Bashir – sondern Israel. Oder jene
Bewegung, die Zionistische, die einst für das Recht auf eine jüdische Nation
eintrat – frei von der Geißel des Antisemitismus. Als seien sie weniger ein
Staat, weniger eine Idee – als vielmehr ein metaphysisches Problem.
„The perpetrators in Sudan are supported
by UAE, Israel, and the USA.“
– ein Satz wie ein Lehrbuchbeispiel für Schuldverschiebung. Der neue
Antisemitismus trägt das Trikot der Menschenrechte, doch spielt das alte Spiel:
immer gegen denselben Gegner. Die Tweets – eine Parade aus Opfer-Täter-Umkehr,
dämonisierender Sprache und Verschwörungsfuror – sind das tägliche Brot in der
toxischen Teeküche der Netzgesellschaft. Wenn sich Linke im Stil der Rechten an
den Juden abarbeiten, nennt man das nicht Populismus, sondern Regression.
Es
sind dabei nicht nur die Inhalte, die sich gleichen, sondern auch die
Dramaturgie: Israel dementiert, die Hetze blüht. Netanjahu veröffentlicht ein
Video, um klarzustellen, dass Israel nichts mit Kirks Tod zu tun hat – und
prompt wird das als Schuldeingeständnis gedeutet. Logik ist hier weder von
rechts noch von links willkommen. Denn sie stört die große Erzählung des ewigen
Verdachts. Dass der Campusplatz wie eine Chanukkia aus der Luft aussieht,
reicht da als Beweis.
In
der antisemitischen Formel „An allem ist der Jude schuld“
vollzieht sich keine Kritik, sondern ein Ritual. Schuld braucht kein Subjekt –
nur eine Adresse. Früher war’s das Weltjudentum, heute ist es der Zionismus.
Und wer den Unterschied nicht kennt, hat ihn wahrscheinlich nicht verdient.
„The massacres are meant to divert
attention from the genocide in Gaza.“ – heißt es in einem weiteren Beitrag, der politische
Realität mit paranoidem Theater verwechselt. Wenn Zohran Mamdani – der neue
Bürgermeister von New York – attackiert wird, mit dem impliziten Hinweis, er
sei das nächste Ziel „zionistischer Vergeltung“, dann ist die digitale Blutspur
längst gelegt. Und sie verläuft nicht nur rechts außen. Der Hass ist heute
fluid, grenzüberschreitend, multikulturell: Islamisten, Linksnationalisten,
sektiererische Autoritäre, Neonazis und Esoteriker vereint in der tiefen
Überzeugung, dass Israel – oder „der Zionismus“ – das Böse sei.
Was
Hollaender einst mit Spott umkreiste, wird heute als geopolitisches Meme
verklärt. Die Zitate sind da eindeutig: „Zionists are behind
all wars, suffering, and conflicts around the world“, schreibt
einer. Ein anderer ergänzt: „Zionist networks use the media to cover
up their crimes“. Wer
heute so schreibt, hätte 1931 vermutlich „Der Stürmer“ abonniert.
Und
was machen die alten Medien? Verlieren Reichweite. Währenddessen versammeln
sich Millionen bei YouTubern, Telegram-Vorbetern und TikTok-Propheten, für die
„Zionist“ längst das neue Codewort für „Jude“ ist – sauber eingepackt in
Völkerrecht, antikoloniale Rhetorik und getarnt als „Solidarität mit
Palästina“.
Aber:
Solidarität, die sich über tote israelische Babys freut und antisemitische
Bilderstrecken teilt, ist keine. Sie ist Heuchelei mit dem Blut anderer. Und
wer den „Zionistenmord“ an Charlie Kirk für wahrscheinlicher hält als die Kugel
eines rechten Täters, betreibt kein Investigativjournalismus – sondern
betreutes Denken im Kollektivwahn.
Nein,
Israel oder „der Zionismus“ sind nicht an allem schuld. Aber sie sind für viele
– Islamisten, Esoteriker, autoritäre Linke, neurechte Influencer – das, was
„der Jude“ einst für Goebbels war: Projektionsfläche des Undenkbaren. Das
Internet hat aus diesem Ungeist kein Gespenst mehr gemacht, sondern einen
Influencer mit Reichweite.