Wie NIUS die Wirklichkeit verbiegt – und aus einem Rechtsradikalen Provokateur einen Märtyrer schnitzt
TL;DR; Wie aus einem rechtsradikalen Kulturkämpfer ein konservativer Märtyrer der Meinungsfreiheit geschnitzt wird: Charlie Kirk ist tot – und bei NIUS wird er zum Heiligen verklärt. "Die Antifa"? Als Mörder Herbeiphantasiert. Die Realität? Stört nur beim Erlösen.
Aus dem Rechtsradikalen
Kulturkämpfer Charlie Kirk wird posthum ein konservativer Märtyrer der
Meinungsfreiheit – durch eine Erzählung, in der die Antifa mehr Mythos als
Realität ist. Was das über unsere Debattenkultur verrät.
Utah, 11. September 2025, eine College-Veranstaltung. Charlie Kirk,
Gründer von Turning Point USA, wird erschossen. Zwei Tage später, 13.
September, 19:40 Uhr: Auf NIUS schreibt Jens Winter, es sei ein Mord aus dem
Geiste der „Antifa“. Und Kirk? Ein Märtyrer der Meinungsfreiheit. Eine
Lichtgestalt der Demokratie. Ein gefallener Prophet.
So schnell
kann es gehen mit der Erlösung. Der Mann, den das Southern Poverty Law Center
als Verbreiter weiß-nationalistischer Verschwörungsmythen einstuft, wird postum
zum Martin Luther King des Konservatismus verklärt – allerdings ganz ohne „I
have a dream“, dafür mit „buy more ammo“.
Kirk, der in
seinen besten Momenten forderte, öffentliche Schulen zu schließen, Frauen an
den Herd zu verbannen und die Homo-Ehe zur Wurzel allen Übels erklärte, war
laut NIUS vor allem eines: der letzte Verteidiger des offenen Diskurses. Ein
Denker, der sich freiwillig auf den Marktplatz der Argumente setzte, dort
Pfeile fing – metaphorisch natürlich – und am Ende das Schicksal eines Sokrates
erleiden musste. Nur mit Gewehr statt Schierlingsbecher.
Der Täter:
jung, klug, unauffällig. Kein linkes Manifest, kein „Antifa“-Tatbekenntnis.
Sein Name:
Tyler Robinson, 22 Jahre alt, Elektrotechnikstudent aus Utah. Bis vor wenigen Tagen
noch ein Kind des Mormonen-Mittelstands, ACT-Score 34, Facebook-Fotos mit
Disneyland-Mütze. Erst in den letzten Jahren politisiert, sagen Angehörige.
Kein Mitglied linker Gruppen, registriert parteilos, aus einem republikanischen
Elternhaus stammend. Auf Discord und in Notizen ironisch, zynisch, toxisch –
aber vor allem: online.
In Robinsons
Umfeld erkennt man das Bild nicht wieder, das die konservative Öffentlichkeit
eilig zeichnet. Die Tat, so Gouverneur Spencer Cox, sei ein „politisches
Attentat“. Doch wer genau welche Politik hier getötet hat, ist offen.
Jens Winter
schreibt, Kirk sei von einem „Antifa-Anhänger“ ermordet worden – und damit
Opfer linker Agitation. Warum? Weil es schön passt. Ein Linker hat ihn getötet,
und wer zweifelt, stört die gute Geschichte.
Dass
Robinson nie einer linken Organisation angehörte? Geschenkt. Dass kein
Bekennerschreiben auftauchte? Marginalie. Dass der mutmaßliche Täter aus einem
republikanischen Elternhaus stammt, nie zur Wahl ging, sich selbst nicht einmal
öffentlich als politisch bezeichnete? Nebensache.
Denn in der
Erzählung von NIUS ist alles bereits entschieden: Die Linke hat das Messer
geführt, ob nun wörtlich oder geistig. Die Antifa ist allgegenwärtig – in den
Tweets, in den Patronenhülsen, in den Herzen der Jugendlichen, die einmal zu
viele Memes gesehen haben.
Kirk wird dabei nicht als das gezeigt, was er war – ein geschickter
rechter Kulturkämpfer mit politischer Agenda –, sondern als tragischer Held der
Meinungsfreiheit.
„Überzeugt
mich, dass ich falsch liege“, lautete Kirks wiederholter Aufruf an
Campus-Gegner. Die Bühne dafür war stets seine eigene, die Mikrofone
kontrolliert, die Gegner eingeladen – und wenn sie kamen, ausgespielt.
Denn Kirk
debattierte nicht, um überzeugt zu werden. Er debattierte, um zu demonstrieren,
dass man mit dem Konservativen nicht diskutieren kann – weil der
Liberale angeblich längst nicht mehr debattieren will.
Das
Publikum: konservativ. Die Botschaft: Wir sind im Widerstand. Die Opferrolle:
freiwillig gewählt. Nun ist sie unfreiwillig perfekt.
Denn jetzt
hat man ihn erschossen.
Es sind
Bilder entstanden, die das rechte Lager lange ersehnte: Der gefallene Krieger
des Arguments, niedergestreckt von linker Gewalt. Fast zu schön, um wahr zu
sein. Und vielleicht ist es das auch nicht.
Der Täter,
sagen Ermittler, hat sich selbst gestellt, nachdem sein Vater ihn auf
Fahndungsfotos erkannte. Er hinterließ keine Botschaft an die
„Widerstandsbewegung“. Seine Patronenhülsen trugen stattdessen flapsige Sprüche
aus Gaming-Foren. Ironie, die sich nicht in politischen Kategorien fassen lässt
– außer vielleicht in der des digital entkoppelten Nihilismus.
Denn dort
heißt es weiter: Die Linken haben geschossen. Auch wenn die Realität sagt:
Vielleicht war es kein Linker. Vielleicht war es jemand, der alles hasste, was
von „oben“ kam. Der politische Moralismus von rechts wie links ablehnte.
Vielleicht – aber das ist in dieser Geschichte unerwünscht.
Und so wird
Charlie Kirk posthum verklärt: Als Lichtgestalt, als letzter echter Demokrat.
Die Umstände seiner Radikalisierung, seiner Verbindungen zu Trump, seine Nähe
zum christlichen Nationalismus – all das wird weggefiltert.
Ein Märtyrer
braucht keine Biografie, nur einen sauberen Tod. Und ein Märchen in Form einer sauberen
Geschichte. Die liefert NIUS. Am 13. September, Punkt 19:40 Uhr nachdem sein
Realer wahrscheinlicher Mörder (ein Mitglied der Kirche
Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage) gefasst wurde.
Wer am 12.
September noch nie von Charlie Kirk gehört hatte, lernt ihn nun als Heiligen,
quasi Jesus-Epigonen kennen. Nicht nur weiß, sondern reingewaschen. Vom
Kulturkämpfer zum Kreuzträger in drei Tagen. Die Auferstehung übernimmt
Telegram.
Wie lange
dauert es noch, bis NIUS fragt: War Charlie Kirk der zurückgekehrte Jesus, der
uns erlösen wollte – und wir (beziehungsweise: die Linken) haben ihn getötet?
Und wo bleibt sie jetzt – die Erlösung?