Kommunismus mit Kanister – oder was rechte Medien unter „Recherche“ verstehen

 TL;DR: Lin Lindners Einzug in den Bundestag ist kein Skandal. Der Skandal ist die mediale Hetze: rechte Blätter erklären Haarfarbe und Songzeilen zum Beweis für Extremismus. Kein Journalismus, sondern Kampagne gegen das Andere, Uneindeutige, Sichtbare.



Gerhard Trabert scheidet aus gesundheitlichen Gründen aus dem Bundestag aus. Lin Lindner, queer, nichtbinär und links, übernimmt – nicht das Mandat, sondern die Projektionsfläche.
Rechte Medienorgane wittern nicht Politik, sondern Paradox. Und starten eine Mobilmachung gegen das, was ihrer Ordnung widerspricht: das Unreine, das Andere, das Uneindeutige.

 

Lin Lindner zieht in den Bundestag ein. Nicht als Skandal, sondern als Nachrückerin. Nicht als Ideologie, sondern als Mensch. Doch wer den Textbestand rechter Publikationsorgane wie Bild, Junge Freiheit, Reitschuster.de, NIUS oder Apollo News studiert, meint, es handle sich weniger um eine Nachricht als um den Auftakt einer kulturkämpferischen Generalmobilmachung gegen das Unreine, das Andere, das Uneindeutige.

Was folgt, ist kein Journalismus, sondern ein Ritual. Eine Litanei der Lin-Lindner-Dämonisierung, verfasst mit dem Furor derer, die sich in der Beobachtung des Andersseins selbst vergewissern.

Die Ästhetik als Anklage

Die Haare türkis, der Pulli gestrickt – das genügt bereits zur Beglaubigung moralischer und politischer Unbrauchbarkeit. Lindner sei, so heißt es unisono, eine Karikatur ihrer selbst: queer, gepierct, tätowiert – also vermutlich linksextrem. Ein Fall von Äußerlichkeitsbesessenheit, der keine Fakten benötigt, weil das Bild bereits spricht.

Dass Erscheinungsbild und Gesinnung, Mode und Mord ideologisch verwoben werden, ist dabei kein Zufall, sondern Technik. Der Pulli mit Hammer und Sichel wird als „Symbol des Roten Terrors“ gerahmt. Es folgt der historische Exkurs zu Stalin, zu Deportationen, zu Gulags – eine moralische Zeitreise, die ihre argumentative Logik einzig aus Assoziation bezieht. Der Trägerin wird kein eigener politischer Gehalt zugestanden – nur historische Erbschuld durch Textil.

Der Fehler: Nicht was gezeigt wird, ist falsch – sondern was verschwiegen wird.
Nicht ein einziger dieser Artikel fragt, ob Lindner sich jemals politisch zur Sowjetunion, zum Stalinismus oder zu Gewaltregimen bekannt hätte. Aber wozu fragen, wenn Suggerieren reicht?

Es ist der Refrain, der skandiert wird, nicht der Kontext. Lindner teilte einen Instagram-Post mit einem Song der Künstlerin Kerosin95. Darin: wütende, drastische Zeilen gegen TERFs. Das reicht den Autoren zur These: Diese Frau hasst Frauen. Punkt.

Dass es sich um Kunst handelt – um Rap, Polemik, subkulturellen Protest – ist irrelevant. Kunst wird hier nicht interpretiert, sondern instrumentalisiert. Nicht verstanden, sondern verurteilt. Das Lied fungiert als Stellvertreter für die angebliche Gewaltlust queerer Linker, ohne dass jemand fragt, warum diese Zeilen überhaupt geschrieben wurden.

Man kann an dem Songtext Kritik üben – aber dazu müsste man ihn erst einmal lesen können, ohne ihn sofort zur Morddrohung umzudeuten. Die Medien leisten das nicht. Sie ersetzen Deutung durch Dämonisierung.

Die Identität als Gefahr

Das größte Vergehen Lindners scheint jedoch ihr Name zu sein – oder besser: ihr Nicht-Name. Lin. They/them. Non-binär. Für die Autoren dieser Artikel ist das kein Ausdruck individueller Selbstbeschreibung, sondern ein sprachlicher Angriff auf die Ordnung der Dinge.

Also wird gegendert – nicht mit Respekt, sondern mit Sarkasmus: „das Abgeordnende“, „Trans-Person in Kampfmontur“, „blauhaarige Feministin mit Kanister“. Sprache wird zur Waffe gegen die, die mit Sprache ihre Identität verteidigen.

Dass hier nicht nur beleidigt, sondern systematisch entmenschlicht wird, ist keine rhetorische Entgleisung, sondern Methode. Die Artikulation von Geschlechtsidentität wird zur Zielscheibe – nicht, weil sie unverständlich wäre, sondern weil sie unwillkommen ist.

Das Mantra aller Artikel lautet: „Stellen wir uns vor, das käme von rechts.“
Es ist ein rhetorisches Spiel, das als Argument posiert.

Natürlich gibt es eine Debatte über Doppelmoral. Natürlich lässt sich fragen, ob mediale Empörung asymmetrisch funktioniert. Aber der rechte „Whataboutism“ stellt keine Gleichheit her, sondern entzieht sich der Verantwortung: Er ersetzt Auseinandersetzung mit Selbstmitleid.

Wer glaubt, dass sich Hammer & Sichel und Hakenkreuz spiegelbildlich gegenüberstehen, sollte keine Geschichte, sondern Werbung schreiben.

Was bleibt?

Was diese Artikel eint, ist nicht Erkenntnis, sondern Empörung – und zwar eine Empörung, die sich nicht aus dem Skandal ergibt, sondern ihn produziert.
Sie speist sich nicht aus Recherche, sondern aus Reflex.
Sie will nicht aufklären, sondern ausschließen.

Denn nicht Lindner wird zur Gefahr erklärt, sondern ihr ganzes Milieu: Queers, Linke, Akademikerinnen, Aktivistinnen.
Sie ist nicht nur eine Abgeordnete – sie ist Projektionsfläche für das, was man sich unter „Dekadenz“ vorstellt.

Und genau das ist das eigentliche politische Programm dieser Texte:
Nicht Analyse, sondern Abschreckung. Nicht Kritik, sondern Kampagne.

Der Fall Lindner ist kein Skandal.
Die Berichterstattung über sie hingegen schon.

Denn sie zeigt, wie sich rechter Journalismus zur publizistischen Inquisition stilisiert:
Nicht was gesagt wurde, zählt – sondern wer es sagt.
Nicht was vertreten wird, ist relevant – sondern wie man aussieht.

Und vielleicht ist das ja das eigentliche Problem:
Dass Menschen wie Lin Lindner nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Haltung, ihrer Widersprüche und ihrer Verletzlichkeit politisch sichtbar werden.
In einer Demokratie ist das ein Fortschritt.
Für rechte Medien: ein Anlass zur Panik.

 

Liste der (selbst-)geouteten queeren Mitglieder des 21. Deutschen Bundestages (von links nach rechts)

Linke:

·        Maik Brückner (Landesliste Niedersachsen)

·        Lin Lindner (Landesliste Rheinland-Pfalz)

·        Charlotte Neuhäuser (Landesliste NRW)

·        Lisa Schubert (Landesliste NRW)

Grüne:

·        Andreas Audretsch (Landesliste Berlin)

·        Felix Banaszak (Landesliste NRW)

·        Victoria Broßart (Landesliste Bayern)

·        Jeanne Dillschneider (Landesliste Saarland)

·        Ulle Schauws (Landesliste NRW)

·        Marlene Schönberger (Landesliste Bayern)

·        Ricarda Lang (Landesliste Baden-Württemberg)

·        Sven Lehmann (Direktmandat Köln II)

·        Max Lucks (Landesliste NRW)

·        Nyke Slawik (Landesliste NRW)

SPD:

·        Lars Castellucci (Landesliste Baden-Württemberg)

·        Falko Droßmann (Direktmandat Hamburg-Mitte)

·        Matthias Miersch (Direktmandat Hannover-Land II)

·        Matthias Mieves (Direktmandat Kaiserslautern)

CDU/CSU:

·        Jens Spahn (Direktmandat Steinfurt I – Borken I)

·        Hendrik Streeck (Direktmandat Bonn)

·        Wolfgang Stefinger (Direktmandat München-Ost)

AfD:

·        Tobias Ebenberger (Landesliste NRW)

·        Kay Gottschalk (Landesliste NRW)

·        Alice Weidel (Landesliste Baden-Württemberg)

 


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