Wer würde heute noch in der Metro Hebräisch lesen?

TL;DR: Wer heute in der U-Bahn Hebräisch liest, gilt nicht als Leser, sondern als Verdächtiger. Eine Sprache mit 3.000 Jahren Geschichte wird zur Projektionsfläche für Angst, Hass und Doppelmoral. Wo darf Hebräisch noch sichtbar sein – wenn nicht in der Öffentlichkeit?


Hebräisch im öffentlichen Raum? Eine Kolumne über Sprachangst, politische Projektion und das Verschwinden einer jahrtausendealten Kultur aus dem Sichtfeld Europas.


Von Sprachangst, Doppelmoral und dem schrumpfenden Raum für eine Sprache ohne Lobby

In den Cafés Berlins darf man heute alles sein – außer sichtbar hebräisch. In Neukölln fliegt man raus, wenn man ein Falafel-Shirt mit der falschen dritten Sprache trägt. In Deutschland sind die Übersetzungen hebräischer Romane ins Deutsche seit dem 7.10. dramatisch eingebrochen. Und in London oder New York beschmiert man hebräische Restaurantfassaden mit „Es lebe die Intifada“ und anderem. Wer sich da noch traut, in der Berliner U-Bahn ein Buch von Shmuel Yosef Agnon im Original aufzuschlagen – etwa Hakhnasat Kallah (1931 in Warschau auf Hebräische erschienen, erst 1937 auf Englisch übersetzt) oder Belevav Yamim (1937 auf Hebräische erschienen, erste Übersetzung 1940) –, verdient Mut oder Naivität. Wahrscheinlich beides.

In Berlin, Rom, Paris oder Athen sind fremde Sprachen willkommen, solange sie griechisch, türkisch, arabisch oder japanisch sind. Sie gelten als kulturelles Erbe, als Authentizitätssiegel für Tavernen und Sushi-Läden. Hebräisch hingegen wirkt wie ein verirrter Agent aus einem verdächtigen Staat. Als drohe jeder Konsonant mit einem Siedlungsbau.

Dabei wäre es – wenn man nicht gerade mit einem Phobie-Kompass durchs Alphabet stolpert – nicht schwer zu erkennen: Hebräisch ist älter als der Staat, der es heute offiziell nutzt. Viel älter.

עברית – Ivrit gehört zur afroasiatischen Sprachfamilie, genauer: zur Gruppe der nordwestsemitischen Sprachen. Sie war bereits Sprache des Gebets, der Poesie und der Philosophie, als an zionistische Siedlungen noch nicht zu denken war. Hebräisch ist die Ursprache der hebräischen Bibel, des Tanach – dem „Alten Testament“ der Christen –, und seit über zwei Jahrtausenden das kulturelle und geistige Band eines weltweit verstreuten Volkes: von Gonder in Äthiopien über Kerala in Indien bis zu den jüdischen Gemeinden in Kiew, Tschernihiw, Wolodymyr, Köln oder Marseille.

Als der Tempel fiel, blieb das Alphabet. Als Exil und Pogrome kamen, blieb das Hebräische. Und als alles andere zerbrach, konnte man noch immer aus dem Siddur lesen.

Und dann geschah das Unerhörte: Hebräisch, über Jahrhunderte fast ausschließlich liturgisch verwendet, wurde zur einzigen erfolgreich wiederbelebten Sprache der Weltgeschichte. Nicht am Schreibtisch, sondern im Alltag. In Tel Aviv diskutieren Teenager heute über TikTok – auf derselben Sprache, in der einst Psalmen geschrieben wurden.

Etwa 9 ~10  Millionen Menschen weltweit sprechen heute Hebräische fließend. Davon leben ~ 5 Millionen in Israel. Trotz aller Anpassung an lokale Sprachen blieb Hebräisch für Juden weltweit die Sprache der heiligen Texte – und ein Ausdruck überzeitlicher Kontinuität.

Doch genau hier beginnt das Problem. Wer heute Hebräisch spricht, gilt nicht mehr als Träger einer jahrtausendealten Kultur, sondern als politisches Statement. Eine Sprache, die einst half, jüdische Identität trotz Zerstreuung und Verfolgung zu bewahren, wird heute – von Faschisten, Islamisten und autoritären Linken gleichermaßen – als ideologisches Werkzeug eines Staates denunziert. Im schlimmsten Fall: als Komplizin.

Dass aus Sprachkritik Sprachverachtung wird – geschenkt. Hauptsache, das politische Etikett sitzt. Es ist die alte linke Lieblingsübung: die Trennung von Volk, Staat und Kultur behaupten – um dann doch alles in einen Topf zu werfen, sobald es opportun erscheint.

Nur: Hebräisch ist kein Panzer. Es ist eine Sprache. Und nicht einmal eine besonders große. Acht Millionen Sprecher zwischen Mittelmeer und Jordan.  Weitere acht Millionen in der Diaspora. Das ist etwa die Hälfte der niederländischen Sprachgemeinschaft. Ein Drittel von Polnisch. Und doch reicht es, dass Hebräisch im falschen Kontext auftaucht – schon wird sie verdächtig.

Wäre Hebräisch ein Gericht, es stünde mit Warnhinweis auf der Speisekarte autoritär geführter Ideologieküchen: „Kann Spuren von Zionismus enthalten.“

Koschere Restaurants im Ausland tarnen sich mittlerweile als „Middle Eastern“. Der Aleph verschwindet von der Fassade, der Hummus bleibt. Als könne man die Sprache wie eine Kalorienangabe abtrennen. Und als würde das helfen: Miznon in Melbourne wurde dennoch demoliert. In New York bleibt die Fassade beschmiert. Der Tarnversuch funktioniert nicht. Die Camouflage auch nicht.

„Wenn sie uns nur nicht für Israelis hielten, sondern für Menschen, die zufällig Hebräisch sprechen“, sagte kürzlich ein deutscher Jude in der Diaspora zu mir. Schön wär’s. Doch wer heute Hebräisch spricht, trägt nach Logik gewisser Kreise – Faschisten, Islamisten, autoritäre Linke – automatisch die Gesamtverantwortung für einen Staat, dessen Politik er vielleicht ablehnt, dessen Regierung er verachtet – aber dessen Sprache er spricht. Und das genügt.

In keinem jüdischen Feiertag, keinem Gebet, keiner Tora-Passage wird Israel als Staat erwähnt. Aber Hebräisch ist überall. Es ist das Medium jüdischen Erinnerns, Denkens, Streitens – in Berlin wie in Buenos Aires, in Warschau wie in Kiryat Shmona. Wer Hebräisch zensiert, zensiert nicht eine Regierung – sondern eine Geschichte.

Dass in Tel Aviv arabisch über die Lautsprecher der Strände erklingt, dass an Schulen wie dem Joseph-Carlebach-Bildungshaus Deutsch und Hebräisch als Abiturfächer gelten – irrelevant. Hebräisch muss draußen bleiben.

Dabei wäre genau das nötig: mehr Hebräisch, nicht weniger. Nicht, weil es schöner, reicher oder besser ist – sondern, weil es bedroht ist. Nicht durch Zensur, sondern durch Unsichtbarkeit. Durch die schleichende Verdrängung aus dem öffentlichen Raum. Durch Rückzug in Nischen, in PDF-Verlage an Berliner Seen, in Poesiekreise für drei Doktorand:innen, die Agnon lesen.

Die Diaspora feiert Hebräisch manchmal – aber nur, wenn es brav dekontaminiert daherkommt. Kein Bezug zu Israel. Keine jüdische Symbolik. Hebräisch ja – aber bitte „territoriumsneutral“. Ein Esperanto für Identitätsverweigerer.

Der Trick geht selten auf. Die Sprachpolizei kennt keine Unschuld. Selbst Kinderbücher auf Hebräisch wirken verdächtig. Selbst Gedichte. Selbst die drei Buchstaben auf einem Falafelshirt.

Der Reflex, Sprache zu sanktionieren, ist alt. In autoritären Systemen wurde Literatur offen verboten. Heute geschieht es zivilisiert, durch Angst, durch soziale Ächtung, durch Schweigen. Das Ergebnis ist dasselbe: Das Verbreiten von Furcht.

Denn wer Hebräisch liest, ist verdächtig. Wer Hebräisch zeigt, ist politisch. Wer Hebräisch spricht, wird zur Projektionsfläche.

Und wer glaubt, es reiche, hebräische Buchstaben zu verbergen, um dem zu entgehen, hat nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.

Nur: Welche Sprache der Welt muss sich vor den Blicken von Fremden verbergen?

Und wenn schon nicht in der Metro von Rom – wo dann?

 

 

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