Die Musik stand still, das Denken folgte – Zur moralischen Inszenierung des Gedenkens bei Nathaniel Flakin
TL;DR: Nathaniel Flakin betreibt in "Ausstellung in Berlin: Instrumentalisierte Hamas-Opfer" Delegitimierung der Aussetllung zum Nova Festival. Wer Gedenken an ermordete Israelis als Propaganda abtut, verwechselt Empathie mit einem ideologischem Zuteilungssystem.
Zu „Ausstellung
in Berlin: Instrumentalisierte Hamas-Opfer“ von Nathaniel Flakin aus dem nd vom
10.10.2025
Nathaniel
Flakin macht das Licht aus, bevor er das Denken anschaltet. In seiner
Besprechung der Ausstellung „Oct 7 06:29am – The Moment the Music Stood
Still“ gelingt ihm eine beachtliche Übung: ein Text, der sich kritisch
nennt, aber dabei vor allem eines ausstellt – seine ideologische Blindstelle.
Flakin tritt an, um Empathie zu erweitern, doch was er am Ende liefert, ist ein
Abrechnungspapier gegen eine Ausstellung, die sich erlaubt, jüdische Opfer in
den Mittelpunkt zu stellen – und nicht, wie offenbar erwartet, den
geopolitischen Wetterbericht zur Lage in Gaza.
Sein erster
Gegner: das Sicherheitspersonal. Schon der Hinweis, der Flughafen sei
„abgezäunt“ und die Kontrollen „penibel“, setzt den Ton. Als würde das Maß der
Zutrittsprüfung etwas über die Legitimität des Gedenkens verraten. Aber lassen
wir die Vorfeldprosa hinter uns – was zählt, sind die inhaltlichen Angriffe.
Flakin
behauptet, die Ausstellung blende den Kontext aus. Gemeint ist der Zaun,
den die Hamas durchbrach: „Wer hatte diesen Zaun gebaut und zu welchem Zweck?“
Ein Satz wie ein Zeigefinger, der fragt, ob man nicht doch ein bisschen
Verständnis für Bulldozer haben könne. Der Autor vergisst, dass der Kontext –
täglicher Raketenbeschuss, Grenzverletzungen, Terrorinfrastruktur – nicht durch
das Material des Zauns, sondern durch seine ideologische Funktion legitimiert
oder delegitimiert wird. Er verwechselt Erklärung mit Rechtfertigung – und
landet genau dort, wo die Hamas gerne ihre PR-Arbeit platziert: im Konjunktiv
des Zweifels.
Die zentrale
These des Textes, dass die Ausstellung der israelischen Staatsräson diene, ist
so alt wie bequem. Schon Adorno wusste: Wer bei der Betrachtung von Auschwitz
zuerst an die USA denkt, denkt falsch. Heute müsste man sagen: Wer bei der
Darstellung jüdischer Opfer sofort fragt, ob auch genug Platz für
palästinensische Kinder sei, hat das Prinzip des Gedenkens mit dem
Pressespiegel verwechselt. Empathie, selektiv oder nicht, ist kein
Nullsummenspiel. Gedenken an 378 Ermordete – 344 davon Zivilist*innen – ist
kein Schweigen über andere Opfer, sondern ein lautes Nein zu deren
Relativierung.
Ein
besonders schweres rhetorisches Gerät fährt Flakin mit dem Vergleich von
Festival-Schuhen und KZ-Gedenkstätten auf: „Eine Assoziation […] ist zumindest
nicht auszuschließen.“ Das ist sprachliche Schleuderware. Alles ist nicht
auszuschließen. Auch nicht, dass jemand das absichtlich falsch versteht. Wer
aus Erinnerung Symbolkonkurrenz macht, hat den Unterschied zwischen Assoziation
und Ästhetik nie ganz begriffen. Dass Flakin daraus eine fast sakrale
Erschütterung in der deutschen Erinnerungspolitik ableitet, ist weniger Kritik
als performative Aufgeregtheit.
Spätestens
mit dem Zitat von Ben Ratskoff („nichtjüdische Deutsche […] schlüpfen in die
Rolle jüdischer Opfer“) driftet der Text ins Unanständige ab. Wer hier die
Gedenkenden pauschal als Tätererben markiert, stilisiert sich nicht als
Kritiker, sondern als Ankläger mit Sippenhaftfantasie. Im Versuch,
Identifikation mit Opfern zu delegitimieren, wird Gedenken zur Zumutung – wenn
es denn jüdisch ist.
Dass die
Ausstellung „nicht ein Wort über Gaza“ verliere, ist für Flakin Beweis der
Einseitigkeit. Er unterschlägt dabei, dass das Thema nicht „Krieg in Gaza“ war,
sondern: das Massaker vom 7. Oktober auf dem Nova-Festival. Wer bei
einer Ausstellung über das Olympia-Attentat in München fordert, die Lage im
Westjordanland mitzudenken, demonstriert weniger moralische Sensibilität als
politische Abstraktion.
Ironischerweise
tut Flakin genau das, was er der Ausstellung vorwirft: er blendet Kontext aus.
Dass es sich bei den Angreifern vom 7. Oktober um fanatische, antisemitische
Kombattanten handelt, erwähnt er bestenfalls am Rande. Dass der Angriff sich
explizit gegen jüdisches Leben richtete – nicht gegen Soldaten, nicht gegen
Siedler, sondern gegen Tanzende – fällt ihm semantisch durch. Was bleibt, ist
ein Bericht, der das Massaker zwar beschreibt, aber nicht benennt: als das, was
es war – antisemitischer Terror.
Auch
rhetorisch zeigt sich Flakin in Feierlaune. Er spricht vom „quasi-religiösen“
Vokabular („schöne Engel“, „Himmel“) in der Ausstellung – als wäre Pathos ein
Beweis von Propaganda. Man fragt sich, ob ihm Trauer grundsätzlich suspekt ist,
solange sie nicht gleichmäßig verteilt wird. Und ob nicht gerade diese
Weigerung, jüdischem Schmerz einen exklusiven Raum zuzugestehen, das wahre
Problem beschreibt.
Das zentrale
Missverständnis des Artikels liegt in der Verwechslung von Gedenken mit
Berichterstattung. Eine Ausstellung ist keine Presseschau. Sie darf selektiv
sein. Sie muss es sogar. Und wenn sie sich dazu entscheidet, das Massaker an
378 Menschen durch immersive Techniken erfahrbar zu machen, ist das keine
„Überwältigung statt Reflexion“, sondern ein legitimer Versuch, Erfahrung in
Mitgefühl zu übersetzen. Wer das kritisiert, sollte konsequent auch
Auschwitz-Besuche als emotionalen Zwang ablehnen.
Fazit?
Flakin will „Kontext“ – und verkennt dabei, dass er selbst längst zum Kontext
einer Debatte gehört, in der jüdisches Gedenken unter Generalverdacht steht.
Sein Text will mehr Empathie – und verweigert sie genau dort, wo sie am
nötigsten wäre. Er will kritisieren – und fällt dabei zurück in die alte Leier,
dass jüdisches Leid politisch motiviert sei, sobald es öffentlich wird.
Mit dieser
Logik lässt sich jede Form der Erinnerung delegitimieren. Nur nicht die eigene.