Weder Kalifat noch Vaterland. Sondern Selbstbestimmung. Für alle.

TL;DR: Weder Kalifat noch Vaterland. Islamismus ist keine Befreiung, sondern Reaktion: auf Elend, Entfremdung und Hoffnungslosigkeit. Wer emanzipatorisch sein will, braucht Klassenanalyse, Feminismus, Solidarität – nicht Kulturrelativismus oder Schweigen.


Ein Beitrag zur linken Islamismuskritik


In den Ruinen der Geschichte wuchert das Unkraut.

Wo einst der kategorische Imperativ von Karl Marx –

„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ 

zur Leitidee der Kritik von Religion und Gesellschaft erhoben wurde, vegetiert heute in Seminarräumen eine Debattenkultur, die den politischen Kompass verloren hat. Statt Klassenanalyse und materialistischer Kritik an ideologischer Verblendung dominiert die Furcht vor falschen Zuschreibungen – und die Fixierung auf kulturelle Empfindlichkeiten.

Sozialist*innen, heißt es nun mancherorts, würden einen Fehler machen, wenn sie islamistische Bewegungen entweder per se als reaktionär und „faschistisch“ einordnen oder pauschal als „antiimperialistisch“ und „progressiv“ verklären. Der radikale Islamismus mit seinem Projekt der Wiedererrichtung einer Gesellschaft nach dem Modell Mohammeds im Arabien des 7. Jahrhunderts, so eine zentrale These, sei vielmehr eine „Utopie“ – geboren aus einer verarmten Sektion der neuen Mittelschicht, aber mit globaler Wirkungskraft. (sihe Chris Harman "Politischer Islam – eine marxistische Analyse")

Doch diese vermeintlich „neue Differenzierung“ ist selten Analyse, häufiger Ausflucht. Sie ersetzt den kategorischen Imperativ der Befreiung durch einen Relativismus, der selbst dort noch Respekt einfordert, wo es um Unterwerfung geht.

Islamismus – Feind der befreiten Gesellschaft

Islamismus ist keine Folklore, kein Ausdruck „authentischer Identität“, kein schützenswertes Kulturdenkmal. Islamismus ist – wie Faschismus, wie Evangelikale, wie Hindufaschisten und Kathofundis – ein Feind jeder befreiten Gesellschaft. Und wer das nicht sagt, macht sich gemein mit jenen, die den Koran als Kriegsanleitung lesen und das Maschinengewehr gleich mitliefern.

Religion war nie apolitisch. Sie ist das Opium, das dort wirkt, wo Schmerz keine Sprache findet. Der Islamismus ist keine „Politisierung“ eines neutralen Glaubens, sondern der Versuch, das Elend der Welt in Blut zu ertränken – massenmörderisch, reaktionär und universalistisch organisiert.

Natürlich melden sich dann auch klügere Köpfe mit besorgtem Tonfall und marxistischem Etikett: Nein, so einfach dürfe man es sich nicht machen. Diese Bewegungen, so Chris Harman, wüchsen schließlich „auf dem Boden sehr breiter sozialer Schichten“, deren Empörung für „progressivere Ziele“ mobilisierbar sei.

Ein hübscher Gedanke. Leider falsch.

Denn diese Empörung richtet sich nicht gegen Kapital und Herrschaft, sondern gegen Frauen ohne Schleier, Juden ohne Angst und Schwule mit Haltung. Der Islamismus kanalisiert den Zorn der Entrechteten nicht in Klassenkampf, sondern in Körperkontrolle (z.B. propagieren  Islamistische Influencerinnen wie Hanna Hansen den fundamentalistischen Islam als neuen Lifestyle. Ihr Ideal ist die keusche, verschleierte Frau als Gegenmodell zum „sündigen“ Westen.) , Gottesstaat und Märtyrerkult. Wer sich also darauf beruft, dass Islamisten „unter der bestehenden Gesellschaft leiden“, hat recht – wie übrigens auch jeder Patriot, der gegen Geflüchtete hetzt. Leid macht nicht automatisch links.

Empörung ist noch keine Emanzipation. Und das Elend, aus dem der Islamismus sich speist, ist nicht seine Entschuldigung, sondern seine Voraussetzung.

Der Islamismus als Produkt der kapitalistischen Realität

Wer Islamismus für irrational hält, hat nichts verstanden – weder vom Kapitalismus noch vom Subjekt, das in ihm aufwächst. Islamismus ist keine Rückständigkeit, sondern Reaktion: auf Elend, auf Entfremdung, auf Ohnmacht. In einer Welt ohne linke Zukunftsversprechen ist er Option – falsch, mörderisch, aber logisch.

Er ist das ideologische Angebot an die Verlorenen des globalen Südens – und zunehmend auch des Nordens – die auf ihre soziale Deklassierung keine politische Antwort mehr finden. Denn wo einst revolutionäre Bewegungen Hoffnung auf Befreiung formulierten, stehen heute zwischenmenschliche Trainingsprogramme und bewaffnete Grenzregime: Die einen preisen „Wertschätzung in der Arbeitswelt“, die anderen schießen an der Außengrenze.

Während der demokratische Sozialismus verlernt hat, mit historischen Worten von Zukunft zu sprechen, verspricht der Islamismus Ordnung, Sinn und Zugehörigkeit – nicht, weil er recht hat, sondern weil sonst niemand mehr spricht.

In einer Gesellschaft, in der Kultur zum sakrosankten Schutzobjekt verklärt wird, während die sozialen Verhältnisse verrotten, ist jede Kritik an reaktionären Praktiken verdächtig. Dass Menschen nicht als Individuen, sondern als Stellvertreter*innen ihrer „Kultur“ verhandelt werden – das ist kein Privileg der Rechten. Auch die Linke, aufgeschreckt von Zuschreibungen, hat sich angewöhnt, lieber über Mikroaggressionen als über makrosoziale Ursachen zu reden.

Wer dem Islamismus als „anderer Kultur“ Respekt zollt, lässt das Subjekt in Ketten. Wer sich der Analyse kultureller Praxis verweigert, aus Angst, rassistisch zu klingen, überlässt das Feld denen, die keine Angst haben – aber keine Befreiung wollen.

Natürlich ist „Islamismus“ ein Begriff unter Beobachtung. Von Rechten diskursiv gekapert, von Liberalen euphemisiert, von Linken gemieden. Aber Begriffe sind keine neutralen Hülsen, sondern Werkzeuge im Kampf um Deutungshoheit. Wer aufhört, zu benennen, überlässt das Reden denen, die nicht schweigen – sondern herrschen.

Diskursohnmacht ist kein Naturgesetz. Sie ist das Resultat politischer Feigheit. Und sie wird nicht durch neue Begriffe, sondern durch neue Kämpfe gebrochen.

Gegenprogramm: Klassenkampf, Feminismus, Solidarität

Der Islamismus ist nicht zu verstehen ohne den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen er sich speist. Kein Theologiestudium, keine Integrationskonferenz erklärt, was ein analytischer Materialismus längst erkannt hat: Religion ist Form. Form eines Bedürfnisses, das real ist – nach Sinn, Halt, Zugehörigkeit – aber unter falschen Vorzeichen auftritt.

Wer den Islamismus verstehen will, muss Kapitalismus analysieren. Und zwar nicht als Schlagwort, sondern als Herrschaftsform, die Menschen in Lohn und Leid presst, in Ghettos wirft, in Hoffnungslosigkeit züchtet. Der historische Materialismus fragt nicht nach dem Glauben – er fragt: Wer profitiert, wer leidet, wer stirbt?

Die tragischste Ironie: Die radikale Linke schweigt dort, wo sie sprechen müsste – und redet dort, wo sie schweigen sollte. Während Exil-Iranerinnen, kurdische Sozialistinnen oder libanesische Anarchistinnen seit Jahrzehnten die Verbindung von Kapitalismus und Islamismus aufzeigen, wird ihnen in der deutschen Linken misstraut – zu konfrontativ, zu komplex, zu unbequem.

Lieber diskutiert man über Toilettensprache als über tödliche Ideologien. Doch wer so handelt, verrät die emanzipatorische Idee – und all jene, die zwischen Märtyrerkult und Staatsgewalt zerrieben werden.

Was dem Islamismus entgegenzusetzen ist, sind keine Talkshows, keine interreligiösen Dialogformate, keine Innenministerinnen. Es sind klassenkämpferische, feministische, sozialrevolutionäre Bewegungen. Bewegungen, die das Elend nicht spirituell transzendieren, sondern materiell überwinden wollen.

Denn Menschen sind keine Automaten ihrer Herkunft. Sie können sich entscheiden: für Atheismus, für Emanzipation, für Kampf. Gegen Allah, gegen Nation, gegen Kapital. Diese Entscheidung ist keine religiöse, sondern eine politische – und sie braucht eine Bewegung, die sie möglich macht.

Wenn der demokratische Sozialismus mehr sein soll als das Echo vergangener Kämpfe, dann muss er dort ansetzen, wo es weh tut: In der Analyse. In der Praxis. In der Klarheit. Keine Rücksicht auf Kulturalismen, keine Komplizenschaft mit dem Liberalismus, kein Appeasement an die Reaktion.

Weder Kalifat noch Vaterland. Sondern: Selbstbestimmung. Für alle.

 


 

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