Vom Rand zur Regierung: Der Kahanismus in Israel – Ideologie, Einfluss und die Rolle Itamar Ben-Gvirs nach dem 7. Oktober

 TL;DR: Vom Terrorrand zur Regierungsbank: Kahanes Erben schreiben heute israelische Sicherheitsgesetze. Der Kahanismus ist kein Schreckgespenst mehr – er trägt Ministertitel und verteilt Waffenscheine. Staatsräson im Gottesstaat? Schon längst Realität.


Wie eine einst geächtete Terrorsekte heute Israels Regierung mitgestaltet

Wer Meir Kahane vor fünfzig Jahren einen Israelischen politischen Irrläufer nannte, hat sich gewaltig geirrt – es war der Vorläufer. Der rassistische Rabbiner, dessen Partei Kach wegen Hetze und Gewaltverherrlichung in Israel, den USA und der EU verboten wurde, gilt heute als geistiger Vater eines Ministers. Sein Vermächtnis? Keine politische Randnotiz, sondern Regierungspraxis im Staat Israel – täglich, offen, bewaffnet.

Mit dem Einzug Itamar Ben-Gvirs in die Regierung Netanjahu im Jahr 2022 wurde ein historischer Dammbruch vollzogen: Erstmals erhielt ein bekennender Kahanist ein Kabinettsposten, zuständig ausgerechnet für die nationale Sicherheit. 53 Strafverfahren, mehrere Verurteilungen – darunter wegen Rassismus und Terrorpropaganda – sind in der neuen israelischen Normalität offenbar kein Hindernis mehr, sondern Bewerbungsschreiben für Macht.

Von Goldstein bis Ben-Gvir: Eine ungebrochene Blutlinie

Der Kahanismus ist keine Randerscheinung einer aufgeheizten Wahlperiode, sondern eine kontinuierlich gepflegte Ideologie. Ihr Credo? Die gewaltsame Errichtung eines jüdischen Gottesstaates, ethnisch homogen, demokratisch lediglich im Lippenbekenntnis. Seit Baruch Goldstein 1994 in Hebron 29 betende Muslime ermordete, zieht sich eine blutige Linie durch Israels politische Geschichte. Die Toten von Duma, Schefar’am und Huwara zeugen von einer Geisteshaltung, deren Waffen heute wieder blank liegen – nur diesmal legalisiert.

Ben-Gvir, einst juristischer Verteidiger von Terroristen wie Amiram Ben-Uliel, ist heute deren politischer Erbe – nur mit Ministerrang. Und wenn im Wohnzimmer des Innenministers einst ein Porträt des Massenmörders Goldstein hing, dann ist das kein jugendlicher Fehltritt, sondern eine ideologische Visitenkarte.

Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 vollzog sich eine weitere Eskalationsstufe: Ben-Gvirs Innenministerium mutierte zur Waffenvergabestelle. Über 330.000 neue Waffenscheine binnen weniger Monate, bewaffnete Milizen mit Kitat-Konenut-Label, Rapper in Kampfmontur, die in Tel Aviv Araber kontrollieren – und statt Ermittlung ein Orden vom Minister.

Wer heute durch Israels Städte streift, begegnet nicht nur Soldaten, sondern bewaffneten Zivilisten in Uniformimitaten, die sich als „Schnelleingreiftruppen“ inszenieren – ihre Loyalität gilt nicht dem Staat, sondern der Bewegung. Eine paramilitärische Schattenarmee, geboren aus Angst, aber genährt durch Ideologie.

Zwischen Demokratieversprechen und göttlicher Rache

Die israelische Unabhängigkeitserklärung versprach „Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für alle Bürger“. Kahanes Schüler dagegen predigen „göttliche Rache an den Völkern“. Minister Smotrich fantasiert von einer Ordnung „wie zu den Tagen König Davids“, während Ben-Gvir das Gesetz zum Werkzeug seiner Machtphantasien macht.

Selbst die demokratische Fassade beginnt zu bröckeln. Der oberste Justizarchitekt Ilan Bombach riet öffentlich, die Verfassung als „schnell hingeworfenes Dokument von 37 Personen“ nicht allzu ernst zu nehmen. Der Rechtsstaat? Optional. Die Gewaltenteilung? Ein störender Anachronismus.

Die Kahanisten wurden nicht besiegt – sie wurden integriert. Heute sitzen sie im Parlament, führen Ministerien, beraten Abgeordnete. Aus Radikalen von einst wurden Technokraten der Barbarei, aus Pogromisten potenzielle Mandatsträger.

Der langjährige Likud-Partner Avigdor Liberman, selbst einst in der JDL aktiv, ließ 2015 verlauten, man solle „illoyalen Arabern den Kopf abschneiden“. May Golan, heute Ministerin für Gleichstellung, war 2013 für Otzma Yehudit aufgestellt – ihre „Gleichstellung“ meint vor allem Juden. Und die moralische Unterfütterung der neuen Waffenmilizen kommt von einem Rapper namens „The Shadow“, der vor laufender Kamera Palästinenser schikaniert.

Dass eine Ideologie, deren bekannteste Vertreter auf Terrorlisten stehen oder wegen Massenmordes verurteilt wurden, heute in Regierungserklärungen und Polizeireformen fortlebt, sagt mehr über den Zustand Israels als über seine Feinde. Der Feind – so scheint es – ist längst im eigenen Inneren installiert: im Parlament, in der Exekutive, im Kulturbetrieb.

Die Rhetorik ist enthemmt. Wenn ein Minister einen Häftling als „menschliches Tier“ beschreibt oder ein Abgeordneter öffentlich fragt, ob „ein Stock im Anus“ legitim sei, solange das Opfer Palästinenser ist – dann ist das keine Grenzüberschreitung mehr, sondern politischer Alltag.

Eine Staatsräson namens Kahanismus?

Was als extremistischer Fiebertraum begann, ist Regierungswirklichkeit geworden. Der Kahanismus hat seine Maske abgelegt – nicht, weil er gezähmt wurde, sondern weil es keine Scham mehr braucht. Die einstigen Ideologen, die von außen gegen den Staat agitierten, haben diesen Staat übernommen – institutionell, ideologisch und bewaffnet.

Und so stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob Israels Regierung den Kahanismus toleriert. Die Frage ist: Wann wurde er Staatsräson?

 

 


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