Zum 9. November heißt es ‚Nie wieder‘ – doch für viele Linke gilt das nicht für Zionisten
TL;DR: Wenn in der Linken
„Zionisten raus aus Deutschland!“ getwittert wird – und der Skandal ist der,
der das kritisiert –, dann ist Erinnerung nur noch Pose. Eine Glosse über
Antisemitismus, linke Selbstgerechtigkeit und den Verrat am Antifaschismus.
Am 9.
November 1938 hätte jene letzte Spur von Mitgefühl, Anstand oder moralischem
Restverstand in der deutschen Gesellschaft vielleicht noch einmal gegen das
kommende Unmenschliche auflehnen können – doch sie zögerte nur und verschwand.
Ab diesem Tag begann das Morden offen.
87 Jahre
später veröffentlicht Die Linke zum selben Datum einen Tweet mit allen
Zutaten der staatsfrommen Erinnerung: Betroffenheitslyrik, Pflichtpathos, ein
Hauch Widerstand und, selbstverständlich, die frohe Botschaft: „in der
Antisemitismus keinen Platz hat.“
Dass
ausgerechnet unter diesem Text ein Parteimitglied das Bedürfnis verspürt, den
„Zionisten“ die Tür zu weisen – nicht zur Diskussion, sondern aus dem Land –,
könnte man für einen ironischen Betriebsunfall halten. Wenn es nicht längst
das tragische Hauptprogramm dieser Partei wäre.
Tony
Wohlfarth, offenbar ein Mann mit mehr Anstand als Parteirückhalt, wagte es, die
Diskrepanz zwischen der Pose und der Praxis zu benennen. Sein Satz: „Wer nicht
gegen Antisemitismus ist, kann kein Antifaschist sein“, sollte in jeder
antifaschistischen Broschüre als Eingangszitat prangen – wird aber in der
Partei der Gedenkgewerkschaftler als Majestätsbeleidigung wahrgenommen. Die
Antwort aus dem Echoraum: „Tret aus.“ Befehlston statt Argument. Und das von
jemandem, der offenbar denkt, „Imperativ“ sei eine linke Kampfform.
Ein
anderer Beitrag möchte lieber die Kommata zählen als die Zahl der
antisemitischen Entgleisungen in den eigenen Reihen. „Überprüf deine
Interpunktion!“, schreibt @srddorf, „und hör auf, ein prozionistischer
Jammerlappen zu sein.“ Das ist der Punkt, an dem sich das Zentrum der Debatte
vom Politischen ins Pöbelhafte verschiebt. Denn hier geht es nicht mehr um
Inhalt, sondern um Diskreditierung – nicht aus antisemitischer Agitation
heraus, sondern aus jener feigen Mittelzone der deutschen Linken, in der man
den Antisemitismus nicht formuliert, sondern delegiert: an Begriffe wie
„Zionismus“, an Sympathisierende, an „Jammerlappen“. Dass Wohlfarth lediglich
darauf hinweist, dass Antifaschismus ohne Antisemitismuskritik eine hohle Geste
bleibt, ist für diese Leute offenbar Provokation genug. Wer so reagiert, will
keine Diskussion, sondern will sie vermeiden, indem er sie mit Grammatik erschlägt und mit
Gesinnungsunterstellungen delegitimiert.
Ein weiterer
– offenbar beamteter Wahrnehmungsverweigerer – meint: „Es gibt in der Linken
keinen Antisemitismus.“ Das wäre immerhin tröstlich, wenn man nur fest genug
die Augen zusammenkneift, während man den Satz „Zionisten raus aus
Deutschland!“ ignoriert, der sich unter dem Tweet wie ein Blutfleck in der
Gedenkprosa ausbreitet.
Denn dieser
Satz – knapper geht kaum – bringt das Kunststück zustande, alle Ebenen des
Antisemitismus in einem Ausruf zu versammeln: historische Reminiszenz an
Nazi-Parolen, aktuelle Ausschlusspraxis gegenüber jüdischer Identität, und die
semantische Tarnung unter dem Etikett „Antizionismus“. Wer in Deutschland im
Jahr 2025 noch nicht weiß, dass „Zionisten“ in diesem Kontext ein Code ist –
nicht für Netanjahu, sondern für das jüdische Kollektiv –, der sollte besser
über das Erinnern schweigen und mit dem Denken beginnen.
Doch
„denken“ ist in der Partei, die sich für links hält, aber nie aufgehört hat,
deutschnational zu fühlen, längst durch ein anderes Ritual ersetzt worden: Man
posiert vor der Geschichte, um sich ihrer zu entledigen. Gedenken ist kein
Handeln, sondern ein Ablasshandel. Man bekundet laut, was man nicht lebt – und
greift jene an, die darauf bestehen, dass zwischen Auschwitz und Antisemitismus
mehr steht als ein Twitter-Post mit schwarzem Hintergrund und heiligem Datum.
Es sind also
nicht die „Rechten“, die Wohlfarth attackieren. Es sind die eigenen Leute. Die,
die sich für immun halten, weil sie den richtigen Hashtag setzen. Die, die
glauben, Antisemitismus sei nur dann real, wenn er aus Springerstiefeln tritt –
nicht, wenn er unter ihrer eigenen Flagge salutiert. Das ist nicht nur
tragisch. Es ist die geschmeidige Komplizenschaft mit genau jenem
deutschen Geist, dem man doch angeblich den Kampf angesagt hat.
Man muss den
Satz „Zionisten raus aus Deutschland!“ nicht verbieten, um ihn zu verstehen.
Man muss ihn nur ernst nehmen. Denn er sagt – deutlicher als jeder
Parteitagsbeschluss – was von all der wohlfeilen Erinnerung bleibt, wenn ein
Jude nicht still, nicht sanft, nicht staatsfromm ist: Er soll gehen.
Wohlfarth,
der das benennt, wird angegiftet. Die, die den Antisemitismus formulieren,
bleiben unangefochten. Und Die Linke? Postet weiter Mahnbotschaften.
Vielleicht bald zur Reichspogromnacht ohne Jüdinnen und Juden, aber
dafür mit gendergerechtem Satzbau.
Der Satz
„Nie wieder“ bedeutet nichts, solange man noch fragen muss, für wen er
gilt.
