Feindschaft selbstverschuldet? Eine Regionalzeitung verbreitet Antisemitismus im Gedenken an den 9. November

TL;DR: In einer ostwestfälischen Regionalzeitung verharmlost ein „Wort zum Sonntag“ zum 9. November Antisemitismus durch Schuldumkehr und Täter-Opfer-Umkehr. Nur Michael Gugat nennt das Kind beim Namen – was andere hinnehmen oder beklatschen, entlarvt er als politisches Totalversagen.

Ein Pfarrer rechtfertigt im Westfalen-Blatt Antisemitismus mit Anpassungsrhetorik – Michael Gugat entlarvt die Täter-Opfer-Umkehr in einem scharfen und notwendigen Kommentar.

Im Bielefelder Westfalen-Blatt wird Antisemitismus mit Anpassungsrhetorik gerechtfertigt – Das Bielefelder Ratsmitglied Michael Gugat entlarvt die Täter-Opfer-Umkehr in einem scharfen und notwendigen Kommentar.

Wenn ein emeritierter Pfarrer im Jahr 2025 öffentlich fragt, „weshalb die Juden überhaupt so viel Feindschaft auf sich gezogen haben“, dann ist das keine naive Fehlformulierung. Es ist ein intellektuelles Offenbarungseid. Ein Satz wie aus dem Lehrbuch des sekundären Antisemitismus – nicht als Zitat der Anklagebank, sondern als pastoral verpackte Täterpsychologie mit Absolution inklusive.
Hans-Jürgen Feldmanns Artikel im Westfalen-Blatt trägt den anmaßenden Titel „Schatten über dem 9. November“, und ja – Schatten wirft er. Aber nicht auf das Gedenken, sondern auf das Denken des Autors. Und während der Text sich müht, zwischen Gedenkpathos und theologischer Tiefenbohrung zu changieren, fällt er auf ganzer Linie durch. Nicht, weil er die Pogromnacht erwähnt – sondern weil er meint, sie erklären zu müssen. Und zwar nicht durch die Täter, sondern durch die Opfer.
Feldmann schreibt, die Juden hätten deshalb so viel Feindschaft erfahren, weil sie sich „nicht vollständig ihrer Umwelt angepasst“ und „ihre Identität bewahrt“ hätten. So wird aus dem Beharren auf religiöser und kultureller Eigenständigkeit ein quasi provozierender Akt. Und aus den Pogromen wird – welch perfide Rhetorik – die Reaktion auf den Mangel an Konformität. Wer so argumentiert, macht aus jüdischer Selbstbehauptung eine historische Ungehörigkeit, ein Stachel im Fleisch der nationalen Homogenität. Anders gesagt: Hätten sie sich nur ein bisschen mehr Mühe gegeben beim Anpassen, dann wäre das mit der Feindschaft vielleicht nicht ganz so eskaliert. Wer das für „nachdenklich“ hält, hat nichts verstanden – weder von Geschichte noch von Anstand.
Michael Gugat hat diesen Text seziert, und seine Kritik ist keine Reaktion, sie ist eine Notwendigkeit. In seinem Kommentar „#NieWiederIstJetzt“ legt er das offen, was Feldmanns Leser zwischen den Zeilen spüren konnten, aber nicht immer benennen konnten: Dass der Text eine Täter-Opfer-Umkehr betreibt, die man nicht als rhetorischen Fehltritt durchgehen lassen darf. Denn wo vom „Auf-sich-Ziehen“ von Feindschaft die Rede ist, da ist der Täter bereits aus dem Satz geflüchtet, hat sich sprachlich entkleidet, schuldfrei und anonym gemacht. Die Nationalsozialisten verschwinden, die Mehrheitsgesellschaft wird entlastet. Übrig bleiben – wie stets im antisemitischen Narrativ – die Juden als Erklärung für das, was ihnen angetan wurde.
Es ist diese Verdrehung von Ursache und Wirkung, die Gugat so präzise benennt. Und er tut es, wie es sein muss: mit Schärfe, Klarheit, ohne falsches Verständnis für falsch verstandene Pietät. Wer sich öffentlich fragt, warum Juden gehasst wurden, statt zu fragen, warum Menschen hassen, hat bereits die Seiten gewechselt. Nicht intellektuell – das wäre fast verzeihlich – sondern moralisch. Und das ist nicht verzeihlich, sondern gefährlich.
Man sollte meinen, ein „Wort zum Sonntag“ solle Trost spenden, Orientierung geben, vielleicht sogar Buße ermöglichen. Doch was Feldmann liefert, ist ein biedermeierlich verkleidetes Ressentiment, eine Ethik der Anpassung, in der Abweichung gleichbedeutend mit Provokation ist. Und genau deshalb schreibt er:
„Wer aber anders ist als die anderen und dies auch bleiben will, wird nicht nur als Außenseiter wahrgenommen, erregt Argwohn.“
Argwohn also. Das ist die deutsche Chiffre für die Genehmigung zur Ausgrenzung. Der Code, mit dem schon immer die andere Nase, das andere Gebet, das andere Alphabet zur Gefahr erklärt wurde. Es ist die altbekannte Logik: Wer aus dem Rahmen fällt, hat sich nicht gewundert, wenn der Bilderrahmen bricht. Und wer bleibt, wie er ist, während andere sich biegen, der soll sich nicht beschweren, wenn das System ihn nicht einrahmt, sondern verbrennt. Wörtlich.
Was Feldmann hier formuliert, ist kein Missverständnis – es ist klerikal ummantelter Konformismus, eine Dialektik aus vermeintlicher Toleranz und moralischer Bevormundung. Der Versuch, mit einem seichten „Dabei sind die Juden weder schlechtere noch bessere Menschen“ das zuvor Angerichtete rhetorisch zu neutralisieren, ist kein Ausgleich – es ist der billigste Trick aus der Werkzeugkiste des Antisemitismus: Die Gleichsetzung nach der Entgleisung.
Die Pointe aber ist nicht, dass ein emeritierter Pfarrer so etwas schreibt. Die Pointe ist, dass es gedruckt wird. Unter dem Label „Wort zum Sonntag“, als spiritueller Beitrag zum Gedenken an den 9. November. Wer so etwas verantwortet, stellt nicht nur jüdische Identität in Frage – sondern das eigene Verständnis von Verantwortung, Aufklärung, Moral. Dass solche Texte heute in der publizistischen Mitte erscheinen, ist weniger ein Skandal als ein Symptom. Ein Ausdruck jener antisemitischen Anschlussfähigkeit der bürgerlichen Moral, die nie ganz verschwunden ist – nur besser gekleidet.
In Zeiten, in denen man wieder darüber diskutieren muss, ob jüdische Schüler sicher durch deutsche Innenstädte gehen können, während linke Jugendorganisationen öffentlich bedauern, dass israelische Jugendliche nicht aus einem Flugzeug „entfernt“ wurden – da ist es keine Kleinigkeit, wenn ein kirchlicher Kolumnist mit bildungsbürgerlichem Duktus den Juden dezent empfiehlt, sich doch etwas mehr einzufügen.
Wenn linke Stadtpolitiker aus Erfurt den Holocaust relativieren und ihn „fucking“ nennen, um Israels Selbstverteidigung zu diffamieren, dann ist klar: Der Antisemitismus ist nicht nur von rechts gekommen. Er trägt viele Farben. Mal Braun. Mal Grün. Manchmal auch Rot. Und manchmal das Gewand des Verständnisses – „sie waren halt anders“.
Michael Gugats Text ist ein Leuchtturm inmitten dieses Nebels. Kein Lamento, sondern ein analytisches Florett. Er benennt, was benannt werden muss: Die Sprache, die Verantwortung verschleiert. Die Struktur, die Täter entlastet. Den Gedanken, der vorgibt zu verstehen – aber letztlich nur rechtfertigt. Seine Kritik ist nicht überzogen, sondern unterlebensnotwendig.

Wer Texte wie den von Feldmann duldet, verharmlost. Wer sie verteidigt, verschweigt. Wer sie kritisiert – wie Gugat – verdient nicht Beifall, sondern Nachahmung. Und zwar jeden verdammten Sonntag. 

Der Westfalen Blatt Beitrag als Vollständige Transkription:

Wort zum Sonntag – Schatten über dem 9. November

Von Pfarrer em. Hans-Jürgen Feldmann

Der 9. November ist doppelgesichtig: Tag der Freude, Tag der Schande. An ihm öffnete sich 1989 die Berliner Mauer und damit das Tor zur deutschen Wiedervereinigung.
Er erinnert aber auch an ein großes, staatlich veranlasstes Unrecht an den Juden, dessen man sich als Deutscher nur schämen kann und das nie in Vergessenheit geraten darf.

Es sind die Ereignisse von 1938, seinerzeit zynisch-verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt. Sie erschöpften sich jedoch nicht im Geklirre mutwillig eingeworfener Scheiben, obwohl das an sich schon schlimm genug gewesen wäre.
Obendrein brannten die meisten Synagogen, so auch die in der Turnerstraße in Bielefeld. Jüdische Geschäfte wurden verwüstet, geplündert, jüdische Menschen misshandelt, etwa 400 von ihnen sogar ermordet.
Bis zu 1500 nahmen sich aus Verzweiflung das Leben.
Außerdem wurden 30.000 jüdische Männer anschließend willkürlich verhaftet.
Die Naziherrschaft fühlte sich offensichtlich so fest im Sattel, um es sich leisten zu können, nach all dem vorausgehenden Unrecht an den Juden nun sein verbrecherisches Gesicht völlig ungeschminkt zu zeigen.
Denn nennenswerter Widerstand war unwahrscheinlich. Und das Regime wird sich sogar zu dem noch weit schrecklicheren Verbrechen, der fabrikmäßigen Ermordung der europäischen Juden, ermutigt gefühlt haben, weil es scheinbar nichts zu befürchten hatte – bis ihm dann ein Anderer sein Ende setzte.

Was die zerstörten Synagogen lehren

Die zerstörten Synagogen lehren:
„Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen und dem für den menschlichen Zugriff Unverfügbaren gibt, dort gibt es auch keinen Respekt vor den Menschen“ (Wolfgang Huber).
Und zugleich: Wo es keinen Respekt mehr vor den Menschen, vor ihrem Lebensrecht und ihrer Würde gibt, da gibt es auch keine Zukunft.
Das ist immer zu bedenken, gerade auch in der Gegenwart, da sich Judenhass und Antisemitismus schon wieder aus der Deckung herauswagen.
Dem gilt es, unerschrocken Paroli zu bieten.

Die wohl nie ganz zu beantwortende Frage indessen lautet, weshalb die Juden überhaupt so viel Feindschaft auf sich gezogen haben und ziehen.
Ein entscheidender Grund dafür dürfte sein, dass sie, obwohl in viele Länder zerstreut, sich nicht vollständig ihrer Umwelt angepasst haben und darin schließlich aufgegangen sind.
Sie schlugen diesen bequemeren Weg nicht ein, sondern bewahrten ihre jüdische Identität.
Das ist in der Geschichte einmalig.
Wer aber anders ist als die anderen und dies auch bleiben will, wird nicht nur als Außenseiter wahrgenommen, erregt Argwohn, gibt der übervollen Phantasie Nahrung und macht sich in den Augen der Mehrheit verdächtig.
Dabei sind die Juden weder schlechtere noch bessere Menschen.

 


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