Die kalte Front der Solidarität: Wie die Linke in Neukölln ihren antifaschistischen Kompass verliert
TL;DR:„Völkermörder!“ – So empfängt die Neuköllner Linke den
israelischen Bürgermeister. Gedenkminute zum 7.10? Boykottiert. Solidarität mit
den von Antisemiten bedrohten „Bajszel“? Verweigert. Antifaschismus? Nur, wenn
er ins Weltbild passt. Ein Linker Offenbarungseid.
Über eine ehemals Antifaschistische Partei oder wie postkoloniale Rhetorik und ideologische Scheuklappen in Neukölln den Antifaschismus entkernen.
Es beginnt mit einem Pöbelruf: „Völkermörder!“ – keine Parole am Rand
einer Demo, sondern die Begrüßung für einen israelischen Bürgermeister im
Rathaus Neukölln. Ort: Bezirksverordnetenversammlung. Zeit: Mittwochabend.
Anlass: Städtepartnerschaft mit Bat Yam. Der Vorfall: ein Eklat. Der Urheber:
Ahmed Abed, Fraktionsvorsitzender der Linken, palästinensische Wurzeln,
wiederholt als Redner bei Demos mit brennenden Israelfahnen aktiv. Zielscheibe:
Tzvika Brot, Bürgermeister einer israelischen Stadt, Mitglied des Likud,
Begleiter von Bodyguards – und Repräsentant eines Landes, das sich seit dem 7.
Oktober in einem Abwehrkrieg gegen eine Terrororganisation befindet, die
Schwangere und Kinder abschlachtet.
Wer ist Ahmed Abed?
Ahmed Abed ist Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln. Er hat palästinensische Wurzeln und trat in der Vergangenheit mehrfach als Redner auf Demonstrationen mit israelfeindlicher Symbolik in Erscheinung – darunter Veranstaltungen, bei denen Israelflaggen verbrannt und antisemitische Parolen gerufen wurden.
In der Sitzung vom Oktober 2025 bezeichnete er den israelischen Bürgermeister von Bat Yam als „Völkermörder“ – ein Vorfall, der parteiübergreifend Empörung auslöste. Kritiker werfen ihm eine ideologisch einseitige Haltung und die Relativierung islamistischer Gewalt vor
Von einem Eiertanz, der kein Schritt nach vorn ist
Was wie ein Einzelfall wirken mag, entpuppt sich im Verlauf dieses
politischen Abends als Symptom. Ein Symptom für den Niedergang eines
politischen Selbstverständnisses, das sich noch immer „antifaschistisch“ nennt,
aber bei näherer Betrachtung zu einer eigentümlichen Allianz aus postkolonialer
Rhetorik und ressentimentgeladener Israel-Feindschaft mutiert ist.
Der Anlass: eine Schweigeminute für die Opfer des Hamas-Massakers vom 7.
Oktober. Der Ort: Foyer des Rathauses Neukölln. Bürgermeister Martin Hikel
(SPD) lädt ein – zu Gedenken und Menschlichkeit. Keine Flaggen, kein Pathos.
Nur eine stille Erinnerung an einen Terroranschlag, bei dem mehr als 1.200
Menschen abgeschlachtet, gefoltert, verschleppt wurden. Die Antwort der
Linksfraktion: demonstrative Abwesenheit – und später: eine Pressemitteilung.
Der Vorwurf: „Verachtung für palästinensisches Leben“. Die
Sprache: moralisierend. Der Gedanke: verstörend. Denn nicht etwa, um auch der
zivilen palästinensischen Opfer zu gedenken, wird der Bezirksbürgermeister
attackiert – sondern, weil er den israelischen Opfern überhaupt gedenkt.
Was geschah am 7. Oktober 2023?
Am Morgen des 7. Oktober 2023 durchbrachen bewaffnete Einheiten der islamistischen Hamas überraschend die israelische Grenze. Über 1.200 Menschen wurden bei dem Großangriff getötet – darunter Familien, Kinder, Jugendliche auf einem Musikfestival. Mindestens 250 Personen wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
Israel reagierte mit militärischen Gegenangriffen auf Hamas-Stellungen. Die Ereignisse markieren den schwersten Angriff auf israelisches Gebiet seit der Staatsgründung 1948 und führten zu einer Eskalation des Nahostkonflikts mit Tausenden zivilen Opfern auf beiden Seiten.
Ein solcher Reflex lässt sich nicht mehr mit „fehlendem Taktgefühl“ erklären. Er ist Ausdruck
einer politischen Haltung, die Täter zu Opfern verklärt, sobald es das richtige
ideologische Etikett gibt. Der jüdische Staat wird zum imperialistischen
Monster stilisiert, während die islamistische Hamas als „Widerstand“ durchgeht.
Dass die einen Menschen in Tunnel sperren und als menschliche Schutzschilde
missbrauchen, während die anderen sich gegen Raketen schützen müssen – in
diesem Narrativ hat das keinen Platz. Denn wer zu sehr differenziert, verliert
die moralische Überlegenheit, und die ist in manchen Kreisen zur letzten
Währung politischer Geltung geworden.
Noch grotesker wird es bei der Frage des Schutzes einer Kneipe. Nicht
irgendeiner, sondern des Bajszel – Treffpunkt linker Subkultur,
Veranstaltungsort für antisemitismuskritische Arbeit, Rückzugsraum für
jüdische, queere und migrantische Neuköllner:innen. Ziel wiederholter Angriffe:
Schmierereien, Drohungen, ein Brandanschlag. Das Bezirksparlament verurteilt –
einmütig? Fast. Die Linken stimmen dagegen.
„Bajszel“ – ein Schutzraum unter Druck
Die Kneipe „Bajszel“ in der Emser Straße ist mehr als ein Lokal: Sie gilt als linker Kultur- und Veranstaltungsort in Neukölln, an dem sich jüdische, queere und migrantische Communities treffen und organisieren. Seit Jahren ist das Bajszel Ziel antisemitischer Angriffe – darunter Drohbriefe, Hetzplakate, Einschüchterungen und sogar ein Brandanschlag.
Obwohl sich das Bezirksparlament 2025 parteiübergreifend solidarisch erklärte, stimmte die Linksfraktion gegen eine Resolution – mit Verweis auf „Einseitigkeit“. Betreiber:innen und Unterstützer:innen sehen darin eine politische Bankrotterklärung.
Begründung: Man wolle sich „nicht einseitig positionieren“. Ein Begriff, der
sonst bei klimapolitischen Fragen oder bei außenpolitischer Neutralität gezogen
wird, wird hier zur Relativierung von Morddrohungen genutzt. Statt klarer
Kante: ein Änderungsantrag. Inhalt: allgemeine Verurteilung von „politischer Gewalt“ – ohne Bezug zu
Antisemitismus. Dazu ein Seitenhieb auf Israel – mit Solidarität für eine
Neuköllnerin, die bei einer pro-Hamas-Gaza-Flottille von Israel festgenommen
wurde. Die Täter werden zu Märtyrern, die Bedrohten zur Randnotiz. Man könnte
von einer politischen Unwucht sprechen – wäre sie nicht längst zur Achse
geworden, um die sich Teile der postlinken Szene drehen.
Solidarität auf Zuruf – aber bitte ohne Israel
Die ideologische Selektivität linker Solidarität zeigt sich wie unter einem
Brennglas bei einem weiteren Punkt: dem israelischen Gast aus Bat Yam. Während
Brot über Städtepartnerschaft spricht, über Antisemitismus und Raketenabwehr,
verlässt die Linksfraktion geschlossen den Saal. Auch die Fraktionsvorsitzende
der Grünen, Samira Tanana, geht. Die Bühne gehört den Übriggebliebenen. Später,
draußen, konfrontiert Abed den israelischen Bürgermeister erneut mit
„Völkermord“-Vorwürfen – und erhält eine nüchterne Antwort: „Völkermörder – bestimmt meinen Sie die Hamas?“ Der
Schlagabtausch offenbart das Vakuum der linken Argumentation: Wer nur noch
Opferstatus vergibt, aber keinen Begriff mehr von Täterschaft hat, entzieht
sich jeder ethischen Verantwortung.
Dabei hatte die CDU in derselben Sitzung auf die Förderung eines Vereins
hingewiesen, der Israel aus Karten getilgt hat – mit Geld des Bezirks. Auch
hier: kein klares Wort der Linken zur antisemitischen Botschaft. Der „Kampf
gegen Rechts“ ist eben leichter, wenn er sich gegen eine rechte Partei richtet
– nicht gegen rechte Islamisten, die sich im Gewand des Antiimperialismus
tarnen.
Im Nachgang wird Martin Hikel vorgeworfen, den BVV-Beschluss missachtet zu
haben. Der Inhalt der Kritik: Er habe in der Einladung zur Schweigeminute zu
wenig von palästinensischem Leid gesprochen. Die Botschaft dahinter: Wer den
Toten vom 7. Oktober gedenkt, ohne sofort ein „aber“ anzufügen, wird zum
Komplizen. Zum Komplizen eines „Völkermords“, der längst zur rhetorischen Waffe
geworden ist – und nichts mehr erklärt, aber alles entwertet.
Dabei sprach Hikel durchaus von allen zivilen Opfern. Nur
eben ohne den Versuch, Massaker zu relativieren. Ohne ausgerechnet am Gedenktag
eine moralische Gleichung aufzumachen, die Täter und Opfer auf eine Stufe
stellt. „Wer sich von islamistischem Terror nicht distanziert,
fördert die Spaltung unserer Gesellschaft – und befeuert Rassismus und Hass.“, sagt Hikel. Ein Satz,
der mehr antifaschistische Klarheit enthält als die gesamte Pressearbeit der
Neuköllner Linken.
Was bleibt, ist ein politisches Bild, das beunruhigt. Eine Partei, die sich
als Hüterin antifaschistischer Tradition versteht, verweigert Gedenkminuten,
solidarisiert sich selektiv und relativiert islamistische Gewalt. Der
Begriff Antifaschismus wird zur Chiffre – nicht für die
universelle Verteidigung der Menschenwürde, sondern für eine
identitätspolitische Kampfansage, die ihre Koordinaten verloren hat.
Man könnte das für einen Ausrutscher halten – wäre es nicht längst Methode.
Die politische Linke in Neukölln hat sich in einem moralischen Labyrinth
verlaufen, in dem nur noch zählt, wer spricht – nicht was.
Und in dem ausgerechnet Jüdinnen und Juden sich ihre Sicherheit selbst
organisieren müssen, weil ihre einstigen politischen Verbündeten die Straße
verlassen haben.
Antifaschismus war einmal ein universeller Anspruch. Heute ist er, wie man
sieht, zunehmend partikular. Ein Schild, das man hochhält, solange kein Jude
darunter steht.
