Özlem Alev Demirel: Der Vorwurf als Wahrheit – und das Weltbild als Beweis

TL;DR: Israel „begeht Genozid“, „greift Flottille an“, „blockiert illegal“ – so urteilt Özlem Demirel auf X. Beweise? Egal. Zweifel? Stören. Im Zweifel gegen den Angeklagten – solange der Israel heißt. Moral ersetzt Recht. Und Pose wird zur Politik.



Die Geschichte, so heißt es, urteile im Rückblick.
Bei Özlem Alev Demirel tut sie das vorsorglich im Präsens.

Am 9. September erklärt die Europaabgeordnete der Linkspartei, was Juristen, Historiker und Völkerrechtler bislang nicht abschließend festzustellen vermochten auf X „Die Geschichte wird über alle urteilen, die das noch unterstützen. Nein, Israel „löst“ nicht den „Nahost-Konflikt“, sondern begeht einen Genozid. Der Angriff auf die GazaFlotille ist illegal. Die Blockade des Gaza-Streifens ist illegal. Das Schweigen der EU bleibt eine Schande

Also: Israel begehe einen Genozid. Der Angriff auf die Gaza-Flottille sei illegal. Die Blockade ebenfalls. Und die EU – ach, die EU – schweige sich, wie stets, schuldig.

Ein Urteil in vier Sätzen, ohne Beweisaufnahme, dafür mit moralischer Überlegenheit und parlamentsfähigem Pathos.

Denn wo andere noch prüfen, hat Demirel bereits gesprochen.
Und wo Zweifel wachsen sollten, gedeiht die Pose.

Der Satz über den Genozid steht explizit: keine Einschränkung, keine Vermutung – sondern eine Anklage mit Prädikat.
Dass ein solcher Vorwurf nach UN-Völkermordkonvention nicht in 280 Zeichen erhoben, sondern bewiesen gehört? Geschenkt.
Dass der Internationale Gerichtshof sich mit genau diesem Vorwurf derzeit beschäftigt? Nebensächlich.

Demirel weiß, wo andere fragen.

Ebenso explizit: der Satz über den „illegalen Angriff“ auf die Flottille.
Wer ihn verübt haben soll, wird nicht gesagt – muss auch nicht.
Denn eingebettet zwischen Blockade und Genozid wirkt der Satz wie ein Kapitel in einem Schulbuch, das längst geschrieben ist.

Der Täter hat keinen Namen. Das Publikum kennt ihn ohnehin.

Was aber, wenn das behauptete Faktum gar keines ist?

Am selben Tag meldet Reuters, dass ein Schiff der Gaza-Flottille im tunesischen Hafen Sidi Bou Said durch ein Feuer beschädigt wurde und die Behörden einen Angriff dementieren 

Die Organisatoren sprechen von einem Drohnenangriff, posten ein Video, das ein leuchtendes Objekt zeigt – und überlassen die Interpretation dem Furor derer, die ohnehin wissen, wer's war.

Das tunesische Innenministerium bleibt trocken:
Die Berichte über einen Drohnenangriff „entbehren jeder Wahrheit“ – es habe sich um ein Feuer im Inneren des Schiffs gehandelt.

Und selbst Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete und keineswegs verdächtig, israelfreundlich zu taktieren, erklärt gegenüber Reuters:

Wir wissen nicht, wer den Angriff verübt hat.

Doch dieser Satz fehlt bei Demirel.
Denn Unwissen eignet sich nicht zur Mobilisierung.
Wo die Empörung regiert, hat der Zweifel Redeverbot.

Was bleibt, ist ein Tweet, der ein Urteil imitiert, und den Täter durch Kontext verrät, nicht durch Beleg.
Was früher „Das Gerücht über den Juden“ war ist nun – neu formatiert für Social Media das Gerücht über Israel.

 

Der Satz „Meine Beschuldigung ist der Beweis für den Tatvorwurf“ stammt nicht von Demirel, sondern aus dem Seminar der Hilde Benjamin, der Strafrichterin im Dienste des demokratischen Zentralismus.
Doch der Geist ist derselbe: Das Urteil steht, bevor die Anklage geschrieben ist.

Dass eine Abgeordnete mit derart postfaktischem Rechtsverständnis in der Restlinken noch gefeiert wird, spricht weniger gegen sie als überdeutlich für den Zustand jener Partei, die einst antrat, „die Gesellschaft zu verändern“. Heute verändert sie allenfalls noch Begriffe – und zwar rückwärts.

Die israelische Blockade? Für Demirel selbstverständlich illegal.
Dass der UN-Bericht zur Mavi-Marmara erklärte, die Blockade sei völkerrechtlich zulässig, wenn auch möglicherweise in ihrer Umsetzung unverhältnismäßig? Zu kompliziert.

Und für Demirel gilt:
Komplexität ist Konterrevolution.

In Demirels Welt ist der Vorwurf keine Hypothese, sondern ein Urteil.
Wer fragt, zögert. Wer differenziert, verrät.
Und wer nicht mitmarschiert, hat sich verdächtig gemacht.

Dass sie nicht sagt, Israel habe das Boot angegriffen, aber es so schreibt, dass niemand etwas anderes verstehen kann – das ist die neue linke Ehrlichkeit:
Die Haltung ist sauber, auch wenn der Beweis fehlt.

So wird aus einer unklaren Explosion ein „illegaler Angriff“, aus moralischer Entrüstung ein Genozid-Vorwurf, und aus europäischer Diplomatie ein Verbrechen.
Das ist kein Diskurs – das ist Gesinnungssurrogat im Modus der Empörung.

Und es ist bezeichnend, dass es Applaus findet.

 

Doch machen wir uns nichts vor: Demirel ist nicht allein.
Sie spricht für ein Milieu, in dem Empörung die letzte Instanz ist und Komplexität ein Verrat an der Sache.
Ein Milieu, in dem Drohnenvideos glaubwürdiger sind als Ministerien, Flottillen romantischer als Rechtsnormen und Israel immer schuldig ist – per moralischem Reflex.

Das ist keine Analyse, das ist politische Erbauung.
Ein Katechismus für eine Linke, die lieber glaubt als denkt.

Was bleibt? Ein Tweet, der mehr über die Sprecherin verrät als über den Gegenstand.
Ein moralischer Hochsitz mit schlechter Aussicht.
Und die bittere Gewissheit, dass in Zeiten wie diesen nicht der Zweifel, sondern die Pose zählt.

Denn wer auf der richtigen Seite steht, braucht keine Beweise.
Nur einen X-Zugang, ein WLAN-Kabel – und ein Feindbild.

 

Beliebte Posts aus diesem Blog

Auf die Straße für Gaza? Eine Antwort an die Linken-Vorsitzenden

Säuberungsphantasien per offenem Brief – Stalinistische Nostalgie in der Linken

Erinnerungskultur als Streitfall – Alan Posener contra Bodo Ramelow