„Alerta, Alerta“ oder: Das Missverständnis einer zweiten Chance

TL;DR: Thies Gleiss feiert den Neuanfang der Linken – während Faschisten marschieren, Israel dämonisiert wird und die Partei sich an Satzungsfragen wärmt. Ein Aufschwung, der Antifaschismus und Realität verwechselt. Es wäre komisch, wenn’s nicht so ernst wäre.

Gleiss feiert den Neuanfang der Linken – während Faschisten marschieren, Israel dämonisiert wird und die Partei sich an Satzungsfragen wärmt. Ein Aufschwung, der Antifaschismus und Realität verwechselt. Es wäre komisch, wenn’s nicht so ernst wäre.


Zu Thies Gleiss: „Alerta, Alerta – den guten Neuanfang nicht versieben“ auf links-bewegt.de

Die Partei Die Linke ist der antikapitalistische Pol in der Gesellschaft.“ So schreibt Thies Gleiss (Mitglied des Parteivorstands der Partei Die Linke und in der BAG Antikapitalistische Linke), als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben, als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben. Während in Deutschland Faschisten marschieren, der Staat aufrüstet – gegen die Armen –, und Israel im Namen des Friedens dämonisiert wird, zählt Gleiss Parteimitglieder, preist Mandatsrotation, feiert das neue Selbstbewusstsein einer Partei, deren Führung nicht weiß, wo ihre Fronten verlaufen.

Ein Satz wie ein Etikett für ein Produkt, das längst nicht mehr im Regal steht.

Der Tanz um die Zahlen – und die Leere dahinter

Gleiss beginnt mit Statistik. 120.000 Mitglieder. Junges Durchschnittsalter. Viele Akademiker:innen. Alles beeindruckend – solange man nicht fragt, wofür.

Die Linke sei „die stärkstePartei links der Sozialdemokratie in Europa“. Was nach Triumph klingt, ist in Wahrheit Zahlenfetisch. Wer Mitgliederwachstum zum politischen Argument macht, denkt wie ein Parteibuchverwalter – nicht wie ein Antifaschist.

Während 2025 die Rechten nicht nur auf den Straßen, sondern in Rathäusern, Polizeibehörden und in Gerichten marschieren, verliert sich Gleiss in Parteistrukturen. Seine Analyse ist nicht falsch – sie ist unzureichend.

 

Die Partei Die Linke muss die Partei der Arbeiter:innenklasse werden.“

Ja, aber welcher Klasse? Die, die von der Ampel verarmt wird – oder die, die längst bei der AfD gelandet ist? Die, die Abschiebung fordert – oder die, die vor ihr flieht?

Diese Fragen und die Antworten darauf fehlen. Aus Versehen oder aus Bequemlichkeit?

Gegen Rechts hilft nur Links.“

So lapidar wie ein Aufkleber. Gleiss nennt die AfD einen „rechten Pol“. Das ist politische Topografie, keine Analyse.

Was nützt Mandatsbegrenzung, wenn Faschisten Richter werden?
Was hilft die beste Satzung, wenn eine Partei im Bundestag sitzt, deren Netzwerke bis in Polizeikameradschaften, Bundeswehrkasernen und Richterbund reichen?

2025 ist nicht 2005. Und wer heute von „Aufschwung“ spricht, ohne die faschistische Gefahr zum Ausgangspunkt aller Politik zu machen, schreibt Schulungshefte – keine Strategiepapiere.

Der verdrängte Ursprung des Bruchs

Gleiss beschreibt das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als „Rechtsabspaltung“, die sich zur „sektenhaften Organisation“ entwickle – womit er recht hat.

Was er nicht sagt: Wagenknecht war lange das Gesicht der Linken in der Linken – jener Strömung, der auch Gleiss nahestand.

Er unterschlägt, dass Wagenknecht, ebenso wie die heutigen BSW-Funktionärinnen Dağdelen und Hänsel, zu den Unterzeichnerinnen der Gründungsaufrufe der Antikapitalistischen Linken (AKL) gehörte. Noch 2017 feierte die AKL Wagenknecht auf ihrer Website als „schärfste Kritikerin der neoliberalen Verhältnisse“ – jemand, der „DIE LINKE gestärkt“ habe.

Der Bruch mit Wagenknecht war keine Zäsur. Er war die logische Folge einer Entwicklung, die nie ernsthaft hinterfragt, sondern nur verwaltet wurde.

Sich heute vom Rechtskurs des BSW zu distanzieren, ist bequem – aber intellektuell unredlich. Man trennt sich vom Produkt, behält aber die Produktionsbedingungen.

 

Ginge es nach der AKL, wären zwei Amtsperioden ausreichend.“

Und Gleiss meint das ernst. Als ließe sich die strukturelle Versumpfung parlamentarischer Politik durch ein Haltbarkeitsdatum beseitigen.

Mandatsrotation ist kein revolutionäres Konzept, sondern ein Etikettenwechsel. Korruption bekämpft man nicht mit Kalendern.

Die Entscheidung des Chemnitzer Parteitags, Mandate auf zwölf Jahre zu begrenzen, wird von Gleiss gefeiert. Dass diese Entscheidung sofort durch das Funktionärsnetzwerk entschärft wurde – kein Wort dazu. Dass Rotationslogik Machtverhältnisse nicht beseitigt, sondern formalisiert – bleibt unerwähnt.

Ein „Aufschwung“, der in der Antisemitismusfrage implodiert

Besonders fragwürdig wird Gleiss’ Text bei der Antikriegsdemonstration vom 27. September 2025. Er nennt sie – man reibt sich die Augen – „ein großer Erfolg“.

Tatsächlich demonstrierten an diesem Tag zwei linke Strömungen mit unvereinbaren Positionen:

·        Auf der einen Seite das Bündnis „Zusammen für Gaza“, das Israel als „Genozidstaat“ bezeichnete – ohne ein Wort zur Hamas.

·        Auf der anderen Seite „Salam Shalom“ und die Progressive Linke, die Antisemitismus, Geiseln und Gewalt aller Seiten benannten.

Gleiss macht daraus einen Organisationsfehler. In Wahrheit war es ein politischer Offenbarungseid.

Wer von „strittigen Begriffen“ wie „Völkermord, Genozid, Angriffskrieg“ spricht, aber nicht erkennt, dass hier Israel aus dem Völkerrecht herausgeschrieben wird, macht sich zum Sprachrohr eines Ressentiments mit linkem Etikett.

Die Partei Die Linke spaltet sich – nicht an Mandatsfragen, sondern an der Haltung zu Israel. Und Gleiss schweigt, wo er schreiben müsste.

Der Text endet dort, wo viele linke Texte enden: in der Beschreibung innerparteilicher Gremien.

Die Internationale Kommission sei „aufgebläht“. Die Programmkommission „unübersichtlich“. Der Gewerkschaftsrat „zum Glück inaktiv“.

Man fragt sich: Wofür brennt diese Partei eigentlich? Für die Revolution – oder für die Geschäftsordnung?

Wer 2025 über Nebenleitungen schreibt, während in der AfD längst Hauptleitungen verlegt werden, hat den Ernst der Lage nicht begriffen.

Politik in der ersten Person

nennt Gleiss das neue Selbstbewusstsein der Basis.

Es klingt wie eine Parole – es ist eine Kapitulation. Denn wo Subjektivität zur Strategie wird, verliert man aus dem Blick, was Politik leisten muss: nicht bloß repräsentieren, sondern real verändern.

Gleiss schreibt über Parteistrukturen wie andere über Stadtpläne – während das Erdbeben längst begonnen hat.

Er glaubt an den Neuanfang, wo es längst um Rettung geht.
Er schreibt über Satzung, wenn andere sich bewaffnen.

Sein Text ist das literarische Äquivalent zur Lautsprecherstimme auf der Titanic:
„Bleiben Sie ruhig, wir prüfen die Sitzordnung.“

Es wäre zum Lachen –
wenn es nicht so tödlich ernst wäre.

 

Zu Thies Gleiss: „Alerta, Alerta – den guten Neuanfang nicht versieben“ auf links-bewegt.de

 

 

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