Zum Artikel „Von wegen Staatsräson“ aus dem nd vom 11.09.2025 von Dagmar Lieske, Doris Liebscher, Johannes Spor

 TL;DR: „Von wegen Staatsräson“ ist kein Lamento, sondern ein kluger Angriff gegen die Entwertung des Gedenkens. Wer Antisemitismus als Kritik tarnt und Geschichte nivelliert, bekommt hier keinen Applaus – sondern Argumente. Scharf. Präzise. Notwendig.



Ein Text wie ein sauber gesetzter Tritt ins ideologische Kontor: Lieske, Liebscher und Spor leisten sich in „Von wegenStaatsräson“ das, was im gegenwärtigen Erinnerungsbetrieb selten geworden ist –eine Verteidigung des Gedenkens, die den Angriff nicht scheut. Nicht den polemischen, sondern den präzisen. Und das mit dem politischen Mut, der sich nicht darin erschöpft, den rechten Mob als Täter zu benennen, sondern auch die progressiv gemeinte Regression zu entlarven, die sich seit dem 7. Oktober in Form linker Erinnerungskritik an den Gedenkstättenmaterialien abarbeitet wie der Edding an der Bronzetafel.


Was hier mit aller Schärfe benannt wird, ist keine neue Erscheinung, aber eine neue Dringlichkeit: die ideologische Verkehrung, mit der Antisemitismus nicht mehr verschämt, sondern als diskursive Intervention maskiert auftritt. „Zionismus“ über „Nazismus“ zu sprayen, mag semantisch wirr sein, ist aber symbolpolitisch eindeutig. Es handelt sich nicht um Kritik an Israel, sondern um die Entsorgung jüdischer Geschichte unter dem Deckmantel postkolonialer Parolen. Wer das nicht sehen will, sieht vielleicht zu gern sich selbst als Teil der globalen Befreiungsfront – ob am Ort der Deportation oder am Mikrofon der Gedenkfeier.


Der Text verschweigt die Ambivalenzen nicht, er arbeitet mit ihnen. Die Kritik an der israelischen Regierung – ja. Die problematische Einflussnahme diplomatischer Vertretungen – auch das wird nicht unterschlagen. Doch wo andere meinen, ein diskursives Gleichgewicht herzustellen, das am Ende keine Gewichtung mehr kennt, setzen die Autor*innen eine Grenze: Wer am Jahrestag der Lagerbefreiung gegen den Botschafter protestiert, verwechselt Ort mit Bühne, Vergangenheit mit Gegenwart und Solidarität mit Störung.


In klassischer Umkehrung der Schuldverhältnisse wird nicht der Angriff auf das Gedenken problematisiert, sondern das Gedenken selbst. Es sei „instrumentalisiert“, es sei „routiniert“, es sei „nicht mehr zeitgemäß“. Man kennt das: Wer nichts mehr zu erinnern hat, ruft nach dem Schlussstrich. Wer zu viel zu sagen hat, will nicht mehr zuhören. Und wer sich nicht mit der deutschen Vergangenheit befassen will, ruft: „Free Palestine from German guilt“ – eine Parole, die man sich kaum ausdenken müsste, wäre sie nicht längst in Umlauf. Eine doppelte Entlastungsstrategie, als moralisches Ticket für alle, die Geschichte gern mit Haltung verwechseln.
Das Verdienst des Artikels liegt nicht zuletzt darin, den Mythos vom „Erinnerungsweltmeister Deutschland“ zu dekonstruieren, ohne in jenen relativistischen Ton zu verfallen, der jeden Versuch von Aufarbeitung als Heuchelei denunziert. Die Erinnerungskultur, so die zentrale These, war nie Konsens. Sie wurde erkämpft – gegen staatliche Ignoranz, gesellschaftliche Kälte und ökonomisches Desinteresse. Und sie ist es bis heute. Wer hier Gleichsetzung betreibt, vergleicht nicht die Gewaltformen, sondern verwechselt Kategorien: Gaza ist nicht Treblinka. Die IDF ist nicht die SS. Und wer dennoch diesen Vergleich zieht, betreibt keine Aufklärung, sondern Verdunklung.


Die sprachliche Disziplin des Artikels ist bemerkenswert. Kein moralischer Überschuss, kein affektives Übersteuern – und dennoch kein Zweifel am Standpunkt. Wo andere in Bekenntnissen baden, argumentieren Lieske, Liebscher und Spor. Wo sich der Sound der Debatte längst in moralischer Störfrequenz erschöpft hat, formulieren sie mit kalter Ruhe. Eine Polemik, die nicht schreit, sondern seziert. Der Text ist weniger ein Aufschrei als eine chirurgische Intervention.
Gerade darin liegt seine Stärke – und sein Risiko. Denn wer sich in dieser Weise positioniert, riskiert den Vorwurf der Einseitigkeit, des Staatsnähe-Verdachts, des Gedenkstättenpatriotismus. Doch dieser Text will nicht gefallen. Er will nicht vermitteln, sondern klären. Und wer in einer Zeit, in der das Erinnern zum ideologischen Schlachtfeld wird, die Verteidigung der Gedenkorte zum Ausgangspunkt politischer Analyse macht, hat mehr verstanden als jene, die sich in der wohlfeilen Relativierung der deutschen Geschichte als moralisch Überlegene inszenieren.

„Von wegen Staatsräson“ ist keine Verteidigung des Status quo, sondern ein Aufruf zur Verteidigung des Erkämpften. Kein konservativer Reflex, sondern ein progressiver Realismus, der das Gedenken nicht demontieren will, um Platz für das nächste moralische Projekt zu machen, sondern es als Voraussetzung dafür begreift, überhaupt politisch denken zu können. Ein Text, der irritiert – weil er denkt, wo andere meinen.

"Von wegen Staatsräson" von Dagmar Lieske, Doris Liebscher, Johannes Spor

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