Zu Frederik Schindlers „Wie Israel-Feinde in der Linkspartei das Ruder übernehmen“ (Welt, 17. September)
TL;DR: Schindlers Text „Wie Israel-Feinde in der Linkspartei das Ruder übernehmen“ ist kein Alarm, sondern ein Seismograf: Er zeigt, wie Die Linke nicht radikalisiert, sondern gleichgültig wird – gegenüber Antisemitismus, Symbolpolitik und innerer Erosion. Kritik hier: nicht laut, sondern präzise. Nicht alt, sondern nötig.
Eine
Rezension über einen Text, der selbst den Anspruch erhebt, Kritik zu üben,
gerät leicht in die Versuchung, zu kritisieren, dass kritisiert wird. Damit
soll hier nicht begonnen werden. Denn Schindlers Text hat eine These – und er
verfolgt sie mit bemerkenswerter Beharrlichkeit: Die Linkspartei, so der
Befund, ist auf dem Weg, ihren inneren Kompass in Richtung antiisraelischer
Ideologie umzujustieren. Nicht abrupt, aber schrittweise, nicht mit
Trommelwirbel, sondern durch symbolische Gesten und politische Unterlassungen.
Dabei ist es
nicht das Thema allein – Antisemitismus in linken Milieus ist keine Enthüllung
–, sondern die Erzählweise, die Aufmerksamkeit verdient. Schindler schreibt
nicht als alarmistischer Außenstehender, sondern mit dem Furor eines
Enttäuschten. Die Linkspartei, so ließe sich sein Subtext zusammenfassen, hat
ihr kritisches Erbe verraten – nicht durch zu viel, sondern durch zu wenig
Reflexion.
Die
Erzählung beginnt – nicht zufällig – in Istanbul, Mai 2010: ein Schiff, eine
Blockade, ein Konflikt. Eine Szene wie aus dem Handbuch linker Außenpolitik.
Doch Schindler ist klüger, als bloß auf die Empörungsautomatik zu setzen. Er
zeichnet den Widerspruch zwischen symbolischem Gestus und politischer Realität
nach: Die Bundestagsabgeordnete Höger, eingepfercht auf dem „Frauendeck“,
symbolisiert nicht nur die Absurdität geschlechtsspezifischer Separierung durch
angeblich progressive Akteure, sondern auch den Zwiespalt einer Linken, die
ihre westlichen Werte gegen antiwestliche Allianzen eintauscht – oder
vielleicht auch nur verlegt hat, wie man einen Schlüssel.
Ein
Vergleich liegt nahe: Die Feministin im „Frauendeck“ der IHH ähnelt dem
Vegetarier auf der Jagdgesellschaft – sie weiß, was sie nicht will, aber nicht,
wo sie ist.
Schindler
arbeitet sich nicht an Einzelpersonen ab, sondern nutzt sie als Marker. Inge
Höger ist der historische Präzedenzfall, Ines Schwerdtner die Gegenwartsfigur.
Zwischen beiden liegt eine Entwicklung – oder vielmehr: der Stillstand einer
Entwicklung. Die Partei hat ihre lauteren Stimmen verloren (Lederer, Quade,
Pau, Renner), nicht an die Rechten, sondern ans Verstummen.
Wer sich an
der Schal-Symbolik stört, wird vielleicht einwenden, dass sich politische
Positionen nicht an Kleidungsstücken festmachen lassen. Doch das ist gerade
Schindlers Pointe: In einer Partei, deren Außenwirkung wesentlich von
Symbolpolitik lebt, wird die Wahl der Accessoires zur Aussage – und das
Wegsehen zur Methode.
Dass Ines
Schwerdtner den Schal „in einer lebhaften Situation“ erhalten haben will, ist
eine Ausrede, die Schindler nicht ernst nimmt – und das zu Recht. Denn wenn
politische Repräsentation heute vor allem über Bilder funktioniert, dann ist
ein Instagram-Video kein privater Schnappschuss, sondern eine Positionierung.
Und wer auf einem Podium mit Jeremy Corbyn sitzt, kann sich schwerlich über den
Vorwurf wundern, im Schatten des Antizionismus zu stehen.
Doch
Schindlers Text ist mehr als eine Liste moralischer Versäumnisse. Er legt den
Finger auf einen politischen Riss innerhalb der Linken – zwischen denen, die
Antisemitismus als strukturelle Machtkritik kaschieren, und jenen, die an einem
emanzipatorischen Universalismus festhalten. Der eine Flügel ruft zur
Gaza-Demo, der andere zum Shalom-Arbeitskreis.
Die
eigentliche Brisanz liegt nicht in der Frage, ob jemand einen Schal getragen
hat, sondern darin, wer ihn nicht mehr infrage stellt. Die eigentliche Krise
der Linkspartei ist nicht ihre Radikalisierung, sondern ihre Gleichgültigkeit.
Wo früher gestritten wurde, herrscht heute Achselzucken – oder Parteitagslyrik.
Interessant
auch, wie Schindler den Fall Ramelow inszeniert: Ein Parteiveteran, der sich
gegen die Hamas-Sympathie der eigenen Jugend stellt, wird nicht diskutiert,
sondern delegitimiert. Wer das Wort „Scheiß“ in den Mund nimmt, darf kein
Genosse mehr sein. Dass gleichzeitig Terrorverharmloser durchgewinkt werden,
ist der eigentliche Skandal – und genau darin liegt Schindlers stärkstes
Argument.
Was bleibt?
Eine Linkspartei, die den Staat Israel bestenfalls duldet, schlimmstenfalls
leugnet – und beides mit dem Pathos der Menschenrechte versieht. Schindlers
Kritik ist kein Ruf nach der alten Ordnung, sondern die Beobachtung einer
Partei, die ihre historischen Koordinaten zu verlieren droht. Nicht durch
Umsturz, sondern durch Desinteresse.
Frederik
Schindlers Text ist keine Anklage, sondern ein Seismograf. Er misst tektonische
Verschiebungen innerhalb der politischen Linken, ohne sie zu skandalisieren –
und gerade dadurch mit Wirkung. Die stilistische Schärfe ersetzt nicht das
Argument, sondern bringt es zur Geltung. Wenn Kritik heute etwas leisten soll,
dann das: Nicht belehren, sondern erinnern. Daran, dass Solidarität mehr ist
als ein Schal. Und Haltung mehr als ein Hashtag.