Wenn der Aufruf zum Gebet verdächtig wird, ist der Zionist für den Antizionisten längst schuldig.

 TL;DR: Ein Mann wird ermordet, der Täter ist unbekannt – doch für viele Antizionisten steht der Schuldige fest: Sie sagen „der Zionist“ und meinen „der Jude“. Aus Trauer wird Verdacht, aus Gebet Verschwörung. Wo der sich 'Antizionist' nennende Antisemit denkt, hat der Verstand längst Sendepause.

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Ein Mann wird erschossen. Auf offener Bühne, unter der Flagge des Adlers, mitten in Utah. Der Täter: flüchtig. Das Motiv: unklar. Der Kommentar der Netzgemeinde? Klarer als jede Mordwaffe. Kaum ist Charlie Kirk tot, tritt jener digitale Mob auf den Plan, der längst vergessen hat, was ein Fakt ist – aber sehr genau weiß, was ein Jude ist.

Noch bevor das FBI seine ersten Bilder veröffentlicht, haben die heimischen Hobby-Mossad-Analysten bereits den Täter benannt: die Zionisten. Nicht ein Zionist, wohlgemerkt, sondern die – als wäre die israelische Außenpolitik ein kollektives Attentatsbüro mit Telegram-Newsletter und wöchentlichem Schießbefehl.

Dass man für diese Denkrichtung keinen PhD, sondern bestenfalls ein Telegram-Abo braucht, versteht sich von selbst. Die logische Kohärenz der Argumentation gleicht dabei der Flugbahn eines Kartoffelsacks: Netanjahu twittert „Praying for Charlie Kirk“ – ergo hat er ihn erschossen. Dass der Tweet möglicherweise gefälscht ist, tut nichts zur Sache. Denn wo das Ressentiment denkt, hat die Realität Sendepause.

Doch halt – es kommt noch grotesker. Denn selbst wenn Netanjahu diesen Tweet tatsächlich gesendet hätte: Dass ausgerechnet ein Gebet, jenes stille Ritual der Anteilnahme, im jüdischen wie im christlichen Ritus fest verankert, nun als Indiz einer internationalen Verschwörung herhalten muss, zeugt nicht nur von intellektueller Verzweiflung, sondern von blanker Bosheit.

Das Gebet für einen Verstorbenen – sei es das christliche „requiescat in pace“ oder das jüdische „El male rachamim“ – ist kein Code für ein Attentat, sondern Ausdruck einer Trauerkultur, die der Tod nicht bricht, sondern zurückbindet an Gott, an Menschlichkeit, an Würde. Wer also Beten mit Beseitigen verwechselt, sollte nicht über Nahostpolitik twittern, sondern über sich selbst nachdenken – sofern dazu noch Kapazität besteht.

Die Szene, einst links mit Vorliebe für die Dritte Welt, heute mit Sendungsbewusstsein für die Vierte, zeigt sich erregt und entschlossen. Entschlossen, jede politische Gewalttat als zionistische Verschwörung umzudeuten, ob sie nun in Dallas, Utah oder dem eigenen Hirn stattfindet. Denn dort, tief im neuronalen Bunker der Projektion, regiert ein Weltbild, das schon auf halbem Weg zwischen „Mondlandung war fake“ und „9/11 inside job“ die Notausfahrt „Israel war’s“ nimmt.

Man lese die Reaktionen: Keine Trauer, kein Innehalten, kein Zweifel. Stattdessen: Inszenierung. Der Tote als Exempel, der Mord als Beleg, das Gerücht als Wahrheit. Und im Mittelpunkt stets der Jude – mal als Strippenzieher, mal als Teufel, meist als beides. So wird ein realer Mord zur Folie ideologischer Obsession, und aus dem Mitgefühl wird ein Manöver zur Bestätigung des längst Geglaubten.

Gremliza, hätte er noch getippt, hätte sich an die Stirn getippt. Oder an seinen Satz erinnert:

„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Welt.“

Heute ist es mehr als das – es ist ein globales Betriebssystem mit Updates im Sekundentakt, kompatibel mit jeder Paranoia, virenresistent gegen Argumente. Und wenn’s um Israel geht, wird aus dem Verschwörungsvirus eine politische Pandemie.

Die Plattformen, auf denen sich dieser Irrsinn vollzieht – einst als Foren der Aufklärung gefeiert – sind zu Jahrmärkten des Judenhasses verkommen, nur dass man heute keine Flugblätter mehr druckt, sondern Tweets mit Zitatfunktion verbreitet. Und während der Täter noch flüchtig ist, sitzt die Schuld längst fest im Sattel – mit Kippa und verdächtigem Einfluss auf alles, was die Welt ins Wanken bringt.

Ein Mann wurde ermordet. Wer ihn tötete, ist unklar.
Wer ihn töten wollte, scheint dagegen vielen sehr klar: Der Jude.

Nicht der reale, nicht der Einzelne, sondern der Zionist als Metapher, als Chiffre für alles, was man nicht versteht und deswegen hasst. Was bleibt, ist kein politischer Diskurs, sondern ein Pastiche aus Rassenlehre, Revolutionsromantik und digitaler Demenz.

Und wo das Gebet zum Verbrechen wird, ist der Verstand längst das erste Opfer.

 

 

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